Die Kaffeemeisterin
Christentum übertreten.
Gabriel legte die Feder aus der Hand und murmelte das jüdische Glaubensbekenntnis vor sich hin:
» Schma Jisrael, Adonai Elohenu, Adonai Echod, Adonai Hu Elohim, Adonai Hu Elohim – Höre, Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig, der Ewige ist Gott, der Ewige ist Gott.«
Wieder fiel sein Blick auf die Stadtmauer. Ein verkümmerter Ast ragte aus einem Spalt zwischen den verwitterten Steinen hervor. Kahl und dürr. Als hätte er Wurzeln zu schlagen versucht und sich dann aber aufgegeben. Gabriel verzog die Mundwinkel. Nicht nur, dass er mit allen anderen Frankfurter Juden in dieser Gasse eingekerkert hauste, auch seine Eltern engten ihn ein. Als Kind hatte er immer ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt, sogar noch als Heranwachsender. Nach seiner Rückkehr aus Italien war jedoch plötzlich alles anders gewesen, wie Fremde waren sie wieder aufeinandergetroffen. Und seit sie auch noch das mit der Balletttänzerin aus Mantua erfahren hatten, mit der er in Venedig ein Jahr lang zusammengelebt hatte, hörte er nur noch Vorwürfe. Dabei war Miri sogar Jüdin gewesen. Von der Opernsängerin, einer waschechten Venezianerin und Christin, hatte er dann gar nicht mehr erzählt. Doktor Stern war schon immer der Meinung gewesen, dass man um Christen am besten einen großen Bogen machte, wenn man sich keinen Ärger einhandeln wollte. Selbst seine wenigen christlichen Patienten hatte er weggeschickt, nachdem ihn ein christlicher Arzt erfolgreich verklagt hatte, weil er die Patienten angeblich von ihm abgeworben hatte. Ein gewaltiger Streit war daraufhin zwischen Vater und Sohn entbrannt, weil Gabriel einfach nicht verstehen konnte, dass der Vater sich diese Schikanen gefallen ließ, die noch dazu vom Rat sanktioniert wurden. Auch die Mutter hatte kein Verständnis mehr für ihn, dachte Gabriel in Erinnerung an jene Szene, bei der sie eindeutig die Partei des Vaters ergriffen hatte. Früher hatte sie immer zu ihrem Sohn gehalten, egal was für dumme Sachen er angestellt hatte. Aber das hatte sich nun leider geändert.
Esther Stern hatte selbst als junges Mädchen davon geträumt, einmal Ärztin zu werden. Wohl vor allem deshalb hatte sie mit heftigem Unverständnis reagiert, als ihr einziger Sohn sein Medizinstudium in Padua an den Nagel gehängt hatte. Nach wie vor las sie mit Begeisterung jedes neue medizinische Werk, das auf den Markt kam, und diskutierte eifrig darüber mit ihrem Mann. Wann immer es an kundigen Kräften fehlte, half sie im Spital aus und engagierte sich zusammen mit ihrer Nachbarin Mirjam ben Abraham, Jehudas Frau, bei der Wohlfahrtsorganisation Chewra Kaddischa. Gemeinsam mit dem Krämer selbst hatte sie vor einigen Jahren sogar versucht einen Arzneimittelhandel aufzuziehen, war aber daran gescheitert, dass die Menschen wegen der schlechten Zeiten so wenig Geld hatten. Nun vermietete sie während der Messen ihr Wohnzimmer unter und hatte ihrem Sohn von den ersten Erlösen als Versöhnungsgeste das Spinett gekauft.
Was Gabriel in seinem ganzen Frankfurter Elend immerhin ein wenig Trost gab, waren seine neuen Musikerfreunde, mit denen er sich hin und wieder austauschen konnte: Hans, der Flötist, und Hetti mit der Gitarre. Er hatte sie kurz nach seiner Rückkehr aus Italien kennengelernt, als er seinen Konzertsaal unter der Brücke plötzlich besetzt vorfand. Die beiden Straßenmusikanten waren ihm schnell ans Herz gewachsen, zumal sie sich mit viel Talent und voller Begeisterung auf seine Kompositionen gestürzt hatten, so fremd sie ihnen auch erschienen sein mochten. Da störte es ihn auch kaum, dass Hetti etwas verrückt war, was im Übrigen sogar Hans, ihr Mann, zugeben musste. Der Arme hatte ihm schon manches Mal leidgetan, wenn Hetti mal wieder zu tief ins Glas geguckt und hemmungslos mit anderen Männern angebändelt hatte.
Es klopfte an seiner Tür.
»Gabriel?«, hörte er die Stimme seiner Mutter. »Hier ist Besuch für dich.«
Wer konnte das sein?, fragte er sich, als seine Mutter die Tür öffnete. Es verirrte sich doch sonst nie jemand zu ihm! Vielleicht ein Kunde, der ihm einen neuen Auftrag erteilen oder Unterricht bei ihm nehmen wollte?
Zu seinem Erstaunen stand plötzlich Johanna Berger in seinem Zimmer. Fast hätte er vor Überraschung den Hocker umgestoßen, auf dem die Violine lag.
Die Kaffeehauswirtin trug ein schlichtes, blaues Leinenkleid und hatte ihre Schürze vergessen abzulegen. Darüber trug sie eine graue Strickjacke. Die roten Haare
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