Die Kaffeemeisterin
du allein bist der Grund, weshalb ich Tag für Tag dorthin gehe.«
Johanna wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Herz klopfte so wild, als wollte es zerspringen. Was geht hier vor?, dachte sie. Was will dieser Mann von mir? Er kennt mich doch kaum! Und ich ihn erst recht nicht, bin doch immer ich diejenige, die redet und erzählt, wenn er ins Florian kommt. Ja, ich weiß noch nicht mal seinen Namen, fiel ihr plötzlich ein.
Als hätte der Conte ihre Gedanken erraten, fuhr er fort:
»Du musst verzeihen, Giovanna, dass ich dich vorhin so überfallen habe. Aber mir schien plötzlich, das wäre die Gelegenheit, endlich einmal unter vier Augen mit dir zu sein. Und zwar von Mensch zu Mensch. Ohne dass einer von uns beiden eine Rolle spielen müsste.«
Eine Rolle? Ja, welche Rolle spielst du wohl, du fremder, geheimnisvoller Mann?, fragte sie sich unwillkürlich. Sie schauderte, als ein Windstoß um die Ecke fuhr. Die Sänftenträger waren längst verschwunden, nur die schwarze Gondel mit dem ihr bekannten Wappen, das im Mondlicht sanft flimmerte, lag vertäut vor ihnen an der Mole. Im Schatten der Kabine erkannte Johanna eine Gestalt. Das musste der Gondoliere sein, dachte sie. Also sind wir doch nicht ganz allein.
»Ich heiße Andrea. Andrea Giustinian. Meine Familie lebt seit Generationen in Venedig, uralter Adel, sehr reich.« Seine Stimme klang vollkommen gefühllos, als er nach einer kurzen Pause fortfuhr. »Ich hasse diese Stadt. Überall Fäulnis. Und Korruption. Schöner Schein, aber verdammt wenig dahinter. Schau dir das nur an, Giovanna!«
Er zeigte mit der Hand auf den palazzo vor ihnen. Johanna sah, dass die braune Farbe auf den hölzernen Fensterläden verblichen war. Das Kanalwasser hatte so oft gegen die stuckumrahmte Haustür geschlagen, dass sich eine dickliche grüne Schimmelschicht gebildet hatte, die das schwere Buchenholz hinaufzuklettern schien.
»Oder hier! Wie zwei Sinnbilder für diese Stadt, der Tod und das Vergnügen – wie nahe liegen sie hier beieinander!«
Er zeigte auf eine tote Taube, die neben einer halb zerfetzten bunten Maske im Kanal schwamm. Eine Welle trieb beides in ihre Richtung, sodass Johanna unwillkürlich einen Schritt zurücktrat und auf den glatten Steinen ins Straucheln geriet.
»Giovanna!«
Schon war der Conte hinter sie gesprungen, um sie aufzufangen. Seine Arme hielten sie umschlungen, als sie sich langsam umdrehte, um ihm ins Gesicht zu schauen.
»Sei bellissima!« , flüsterte er nur und erwiderte ihren Blick.
Gabriel – warum musste sie jetzt an Gabriel denken?
Johanna war sich nicht sicher, wie lange sie so gestanden hatten, als sie sich schließlich aus den Armen des Conte löste. Vorsichtig, um nicht erneut auszurutschen, trat sie ein paar Schritte zur Seite. Sie zog sich ihren Mantel fester um die Schultern und starrte in das trübe Wasser vor ihren Füßen. Die tote Taube und die Maske waren weitergetrieben, einträchtig trudelten sie nebeneinanderher, als gehörten sie unwiederbringlich zusammen.
Ja, auch mit Gabriel hatte sie am Wasser gestanden, am Main. Wie lange war das jetzt her? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Und doch war die Erinnerung an jene Stunde, an all die wenigen innigen Momente, die sie mit Gabriel verbracht hatte, fest in ihr verankert. Einmal mehr, nachdem sie durch die kurze Begegnung mit seinem Lehrmeister, dem großen Antonio Vivaldi, wieder angefangen hatte, von ihm zu träumen. Sie musste sie loslassen, diese Erinnerung, dämmerte es ihr plötzlich, wie ein Boot, das man aus seiner Vertäuung löst und der Strömung überlässt. Erst wenn ihr das gelungen wäre, konnte sie ein neues Leben anfangen, ein Leben ohne Gabriel. Denn nur das konnte und durfte es für sie geben.
Mit ihren Augen suchte sie die tote Taube und die Maske. Sie konnte gerade noch erkennen, wie beide plötzlich von einem Sog erfasst wurden und hinter einer Häuserecke verschwanden. Die beiden Sinnbilder Venedigs, wie der Conte sie genannt hatte, sie waren von der Strömung schon mitgerissen worden.
Johanna hob den Kopf. Der Conte stand noch immer an derselben Stelle, unbeweglich. Als hätte er auf sie gewartet. Auf das, was mit ihr geschehen würde. In ihr.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie leichthin und streckte die Hand aus, um sich von ihm in die Gondel helfen zu lassen.
»Lass dich überraschen, Giovanna!«
Ein metallenes Holzkohleöfchen stand in einer Ecke der Kabine, von dem eine angenehme Wärme ausging. Johanna machte es sich auf einem der
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