Die kalte Brut
wirkte dieses Tier wie ein identisches Abbild des anderen, auf den zweiten allerdings glaubte Lilith einen Unterschied auszumachen - in der Physiognomie!
Hatte Lilith bei der ersten Ratte schon den Eindruck gehabt, die Schnauze sei anders als bei einer normalen, sah der Kopf dieses Tieres noch viel ungewöhnlicher aus: flach, die Schnauze nur andeutungsweise vorhanden . beinahe meinte Lilith in das Gesicht eines entsetzlich mißgebildeten Menschen zu sehen!
Und das konnte nicht sein! Es mußte eine Täuschung sein! Es lag wohl an der Kraft dieses Hauses. Sie verlieh Liliths Phantasie Flügel, die sie in Abgründe trugen, in deren Tiefen nur der Wahnsinn hauste.
Hastig riß Lilith die Lampe zur Seite, bis das Licht ins Nichts fiel. Weil sie den entsetzlichen Anblick nicht länger ertrug. Und weil sie nicht wollte, daß aus ihrer absurden Vermutung, ihrer schrecklichen Vorstellung grauenhafte Gewißheit wurde.
Lilith wandte sich nach links. Vorsichtig setzte sie Schritt um Schritt, bis das Licht von einer Wand gestoppt wurde. Daran bewegte sie sich weiter entlang, nach wie vor langsam und darauf bedacht, keine schnellen Bewegung zu machen, die das widerliche Rattenpack aus ihrer seltsamen Lähmung oder Lethargie wecken könnte.
Sie erinnerte sich, daß von diesem Gewölbe Gänge abführten, ir-gendwohin. Sie hatte sie, nicht zuletzt mangels Gelegenheit, nie erkundet.
Jetzt mußte sie es tun. Denn es war wahrscheinlich, daß sie die Männer, deren Rettung wegen sie hier war, dort finden würde -wenn überhaupt.
Mit dem Rücken bewegte sich Lilith an der Wand entlang. Mit der ausgestreckten linken Hand tastete sie über das rauhe, feuchte Mauerwerk - und plötzlich ins Leere.
Der erste Gang ins Nirgendwo oder Sonstwohin.
Er war so gut oder schlecht wie jeder andere.
Lilith glitt um die Ecke. Und erstarrte!
Im Streulicht der Lampe machte sie Bewegungen aus, überall.
Die Ratten rührten sich. Nicht hastig oder erschrocken jedoch, sondern geradezu gemächlich.
Sie folgten Lilith. In sicherem Abstand, gerade so, als wollten sie sie nur nicht aus den Augen verlieren, weiterhin jeden ihrer Schritte beobachten.
Zögernd setzte sich Lilith wieder in Bewegung, ging tiefer in den Gang hinein. Er war immerhin so breit, daß sie die Wände links und rechts mit ausgestreckten Fingern kaum berühren konnte.
Immer wieder warf sie über die Schulter einen Blick zurück, aber die Ratten kamen nicht näher; wohl aber blieben sie ihr auf den Fersen.
Zehn, allerhöchstens fünfzehn Schritte weit war Lilith mittlerweile in den Gang vorgedrungen. Er führte bis jetzt schnurgerade ins Dunkel hinein, und sie hatte auch noch keine Abzweigungen oder Räume entdeckt. Wieder sah Lilith nach hinten - und stolperte!
Ihr Fuß war auf nachgiebigen Widerstand getroffen. Sie ruderte mit den Armen, konnte das Gleichgewicht nicht halten und stürzte.
Instinktiv streckte sie die Hände vor, um sich abzustützen - - und tauchte in weiche Wärme, klebrig, und ein Geruch wie von Kupfer stieg ihr in die Nase. Ein Geruch, den sie kannte, weil er Teil ihres Lebens, ihres vampirischen Loses war.
Der Duft von Blut.
In dieser Sekunde aber empfand Lilith ihn als widerlich.
So widerlich wie den Anblick des Toten, der ihr im Licht der Lampe aus einem gläsern wirkenden Auge ins Gesicht starrte.
*
Der Mann war übel zugerichtet. Zerfressen, zerrissen, im Grunde kaum noch mehr als eine Ansammlung blutiger Krater, von denen einer dort feuchtschimmernd klaffte, wo zu Lebzeiten sein rechtes Auge gesessen hatte.
Selbst die Verschlüsse seiner kugelsicheren Weste hatten die mörderischen Biester irgendwie geöffnet, um die Brust des Toten zu verwüsten.
Wenigstens hoffte Lilith, daß der Officer zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war .
Mühsam richtete sie sich auf, wobei sie vergeblich versuchte, ihre blutverschmierten Hände an den Resten der Kleidung des Leichnams abzuwischen. Aber die Fetzen waren samt und sonders durchtränkt von klebriger Nässe.
Aus der Entdeckung des Toten schloß Lilith, daß sie auf dem richtigen Weg war. Und endlich wagte sie ihre Stimme zu erheben -wenn es auch nur nach einem Stimmchen klang, als sie zittrig ins Dunkel rief: »Hallo? Ist da jemand? Neech Roven? Können Sie mich hören?«
Sie spürte die Bewegung hinter sich. Die Ratten wurden unruhig, schlossen dichter auf. Lilith sah sich kurz um, während das Echo ihres Rufs dumpf verklang. Die Biester hielten nach wie vor zumindest soviel Distanz, daß Lilith
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