Die kalte Koenigin
indem ich nach meiner Kehle griff, um den Blutfluss aus der Wunde zu stillen, die für mehr als ein Jahr wiederholt aufgerissen worden und immer wieder verheilt war. Meine Fingernägel hatten sich beinahe in Klauen verwandelt, der Schmutz des Ortes war mir gleichgültig geworden. »Myrrydanai. Es kommen noch mehr von ihnen.«
Ewen hatte begonnen, die Hoffnung zu verlieren, obwohl ich noch immer an die Prophezeiungen glaubte. Wenn Menschen, die sich im Krieg befinden, die Verzweiflung überkommt, so klammern sie sich oft aneinander – und sie klammern
sich an die Erinnerungen an ihre Heimat. Die Zuneigung zwischen Ewen und mir wuchs, obwohl unsere Kraft schwand. Wir tranken voneinander, wir lagen nebeneinander, und wo er aufhörte, begann ich – bis es mir erschien, als wäre er die gesamte Welt für mich. Wir hatten einander gekannt, seit wir Knaben gewesen waren, und diese Erinnerungen wurden nun zu kurzen Fluchten für uns. Zahlreiche Nächte verbrachten wir gegen den gewölbten Stein des Brunnens gepresst, während wir uns gegenseitig Erinnerungen an unsere Kindheit im Schloss des Barons zuflüsterten, welches früher nicht weit von der Stelle gestanden hatte, an der wir nun gefangen waren. Wir sprachen vom Hüten der Schwäne und vom Zusammentreiben der Schafe, und von der Sonne, die an Sommertagen voller harter Arbeit und mit nur wenigen Ruhepausen golden und glühend am Himmel gestanden hatte. Wir erinnerten uns daran, wie wir auf den Matten in der Nähe der Feuerstelle gelegen hatten, gemeinsam mit all den anderen Knaben, die am Hofe des Barons gearbeitet hatten. Wir erinnerten uns daran, dass einer der Knaben stets Geschichten erzählt hatte, die aus den Tagen noch vor der Römerzeit oder nach der Römerzeit überliefert waren. Auch aus der Zeit vor den englischen Königen hatte er berichtet, oder von Wales und Cornwall, woher viele unserer Vorfahren stammten. Von Artus und Guinevere hatte er ebenfalls erzählt, und von dem Heiligen Gral und seiner Reinheit. Manchmal sprachen wir nachts von unserer Zeit im Krieg mit den Sarazenen und von meinem Bruder Frey, der in der letzten Schlacht, in der ich als Sklavensoldat gekämpft hatte, niedergemetzelt worden war. Ewen berichtete mir von dem, was ihn bewegte – von der Zeit, als ich ihn verlassen hatte und verschwunden war, um in Hedammu
zu sterben, und wie er daraufhin an seinen eigenen Tod gedacht hatte. Davon, wie er nach mir gesucht und einen Vampyr gefunden hatte: statt des Jünglings, der ihm einmal bekannt gewesen war. »Ich würde mit dir durch die Hölle gehen, mein Freund«, hatte er zu mir gesagt, und ich scherzte, dass er dies in der Tat getan hätte.
Der Brunnen war mein Ort derTrauer, wenngleich ich Ewen dies nicht erzählen konnte, da es seinen Mut noch weiter hätte sinken lassen. Ich litt Seelenqualen, zumal ich meine sterbliche Jugend mit einer Idealvorstellung von der Liebe und auch von meiner Geliebten verbracht hatte. Ich hatte Alienora de Whithors, die Tochter des Barons meiner Heimat, wahrhaft geliebt. Wir hatten einander unsere Herzen und Seelen versprochen, und obgleich ich ermordet worden und als Vampyr auferstanden war, war es mir ernst damit. Doch ich hatte gesehen, wie sie eine entsetzliche Handlung beging. Ich hatte im Glas des Schleiers erblickt, wie sie unseren Sohn zur Welt gebracht und sein Blut über einem Moor vergossen hatte, um damit abscheuliche Magie auszuüben – die Sumpfmagie, die von den Druiden, die sie kannten, verachtet wurde. Diese Magie brachte Schrecken in die Welt. Als ich mit Ewen hergekommen war, um die Myrrydanai aufzuhalten, hatte Alienora eine brutale Tat gegen ihren jüngeren Bruder begangen. Auch wenn wir Vampyre von den Menschen trinken, sie niedermetzeln und ihnen das Leben rauben, so ist es doch tausend Mal schrecklicher, ein menschliches Wesen dabei zu beobachten, wie es dies einem Mitglied seiner eigenen Art antut. Und so lag ich mit Ewen da, meinem Freund und geliebten Gefährten, und träumte von ihr, von Alienora, so wie sie einst gewesen war, bevor ihr die Schatten auf den Leib gerückt waren und die
Macht über sie ergriffen hatten. Bevor sie ihre Seele ausgelöst hatte. Mein eigener Seelenschmerz fand Trost in Ewens liebevoller Zuwendung, wenn er von mir trank. In diesen endlosen Nächten wünschte ich mir sogar, ganz leer getrunken zu werden. Aus Einsamkeit und dem Bedürfnis nach Wärme umschlangen wir uns gegenseitig. Obwohl wir den Strom nicht länger spürten, welcher alle Vampyre
Weitere Kostenlose Bücher