Die kalte Koenigin
großen Tabus der Vampyre gebrochen hatten.
Ich dachte, ich würde dort, tief unten in der Erde begraben, meine Auslöschung erleben – während oben, in der Welt des Tageslichts, Schatten durch das Land fegten.
Es war, als ob die Haut der Welt selbst abgeschält und die Welt demaskiert worden wäre und sie dann die Plagen aus einer anderen Welt hervorgebracht hätte. Das Land bebte und wurde erschüttert, auch wenn unser Gefängnis von mächtigem Gestein umschlossen war. Der Brunnen vibrierte durch dieses Zittern, doch weder mein geliebter Gefährte noch ich wussten mit Gewissheit, was aus dem Land über dem Siegel unserer Grabstätte geworden war.
In jenen ersten Nächten unserer Gefangenschaft fragte ich Ewen, als er an meiner Kehle trank: »Hörst du sie?«
Er zog sich zurück und blickte zu dem verschlossenen Dach unseres runden Gefängnisses hinauf. Dann sah er wieder mich an, und in seinen Augen war ein rötliches Glühen zu erkennen. Wir hatten voneinander getrunken, und unser unsterbliches Blut vermischte sich mit dem Saft einer kleinen, aber mächtigen Blume aus der Totenstadt Alkemara, die weit im Osten lag. Dies war das Einzige gewesen, was uns vor der Auslöschung bewahrt hatte – der Hölle eines Bewusstseins, das in den physischen Tod und Untergang eingesperrt war. Während dieses miteinander geteilte Blut ausreichte, um unsere grundlegende Kraft aufrechtzuerhalten, hatten wir einige unserer Fähigkeiten verloren und konnten uns nicht so bewegen, wie wir es gekonnt hatten, als wir noch in den Nachthimmel aufgestiegen waren. Außerdem konnten wir den Strom nicht fühlen.
Meine Liebe und Zuneigung zu ihm wuchs während unserer
Gefangenschaft noch an. Ich wollte mich so um ihn kümmern, dass er in dieser schrecklichen Zeit nicht litte. Zu viele dieser ersten Monate hatte ich im Zorn verbracht, war die gewölbten Mauern so weit wie ich nur konnte hinaufgeklettert, bevor ich wieder in die Grube runtergestürzt war. Ich hatte einen Plan nach dem anderen für unsere Flucht geschmiedet. Wir hätten unseren alten Instinkt genutzt, um uns aus unserer Gruft auszugraben, wie es unsere Vampyrgeschwister ebenfalls getan hatten, wenn sie begraben worden waren. Unglücklicherweise waren wir gänzlich von Felsen umgeben, die zu hart waren, um Händen nachzugeben, die bei unseren Versuchen blutig und wund geworden waren. Ich machte mir weniger Sorgen um mich selbst als um Ewen. Wenn wir uns gemeinsam hinsetzten, nachdem wir uns gegenseitig von unserem Blut genährt hatten, sprachen wir von den geliebten Menschen aus unserer Kindheit, von der Welt und von unserem Hass. Sehr oft hatten wir einander satt. In einigen Nächten lagen wir in getrennten Ecken unserer Gruft, um uns gegenseitig aus dem Weg zu gehen, wenn auch nur für kurze Zeit. In einigen Nächten redeten wir von den Vampyren, die wir vermissten – von Kiya, Yset und Vali, und von Yarilo, den wir an die Neunaugen-Jungfrauen von Alkemara verloren hatten. Ewen litt seit den ersten Nächten an einer ungeheuren Furcht, und ich tröstete ihn, indem ich über Dinge sprach, von denen ich zu glauben begann, dass es sich bei ihnen um Lügen und falsche Hoffnungen handelte.
Bald begannen wir von dem Brunnen als von unserem »runden Grab« zu sprechen. Alles, was wir damals besaßen, waren Hoffnung, Furcht und Zorn auf die sterbliche Welt, die unsichtbar über uns lag.
Ich wurde der Schönheit Ewens, seiner rauen Umarmungen und auch des Klopfens unserer Herzen nicht überdrüssig, wenn wir gemeinsam ruhten, nachdem wir das durch die Blüte besudelte Blut getrunken hatten. In vielen Nächten kämpften wir wie Tiger, so wie es auch sterbliche Menschen tun, wenn sie in ein Gefängnis eingesperrt sind. Wenn der Kampf aber vorüber war, war es der Hafen seines Leibes, in dem ich mein Boot zu vertäuen suchte.
In manchen Nächten suchte ich vergebens nach irgendwelchen Markierungen, Waffen oder Löchern im Felsen, die wir möglicherweise zu Fluchtwegen hätten erweitern können. Wir krallten uns in die Wölbung des Brunnens, stets in dem Versuch, seinen Rand zu erreichen, verfügten aber nicht über genügend Kraft, um auch nur die halbe Strecke bis nach oben zu schaffen.
Doch wir hörten das Flüstern der schrecklichen Schatten – der Priesterkaste der Myrrydanai, fleischlos und von einer Substanz wie Dunst. Sie bewegten sich über das Land, welches über uns lag, eine Armee aus Nebel, die uns mit Angst und Schrecken erfüllte.
»Sie sind es«, sagte ich,
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