Die kalte Koenigin
über den Boden.
In meinem Körper hatten sich die Widerhaken des Pfeiles an einer meiner unteren Rippen verhakt, und obwohl er an mir riss, ließ ich mich wie ein gefangener Fisch weiterziehen.
Ich erkannte, welches rätselhafte Gift ihr Pfeil in meine Blutbahn gebracht hatte. Es war der Saft jener Friedhofsblume, die von den Vampyren »Fleisch der Medhya« genannt wurde – ein für Sterbliche tödliches Gift und damit die vampyrische Verbindung zwischen dieser Welt und dem, was auf der anderen Seite des Schleiers lag. Es war der gleiche Saft, von dem ich – wenn auch nur einen Tropfen – gekostet hatte, um mein Blut zum Blut des Lebens zu machen, so dass Ewen und ich voneinander hatten überleben können, wenngleich wir durch dieses Gemisch auch schwach geworden waren. Doch die Dosis, mit der der Pfeil – und auch die Widerhaken – überzogen gewesen war, erfüllte mich mit einem Gefühl der Benommenheit. Meine Angst wuchs, dass ich mich auf den Schleier zubewegen und
einen weiteren Riss in seinem Stoff verursachen könnte. Diese Droge durfte nicht missbraucht werden, und sie war auch nicht dazu bestimmt, zu einem Fluchtweg aus dieser Welt zu werden. Merod Al-Kamr hatte sie sparsam verwendet, ebenso wie ich. Doch diese Wolfsfrau hatte ihren Pfeil damit übergossen.
Bald war ich des Weihrauchs und des Gebrülls der Menge kaum noch gewahr. Ich sah das Gesicht der Wolfsfrau über mir, und sie schien mir vertraut, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, wann und wo ich sie möglicherweise schon gesehen hatte.
Als sie den Mund öffnete, um zu sprechen, wusste ich es: Ich hatte sie in der Vision gesehen, als mir Merod die Blume gegeben hatte, auf die ich beißen sollte, damit der Nektar aus ihr herausquoll; als ich gesehen hatte, wie meine geliebte Alienora inmitten der Klausnerinnen der Höhlen ein Kind zur Welt gebracht hatte.
Dies war eine Klausnerin, nämlich diejenige, die bei der Geburt meines Kindes anwesend gewesen war.
Denke nicht an deinen Sohn, Falkner. Denke nicht an das, was verloren ist.
Die Stimme dieser alten Frau drang in meinen Geist, und sie lächelte, als sie in meinem Blick sah, dass ich sie erkannte. »Ich habe dir den Saft von tausend Blutblumen gegeben «, sagte sie, ohne dass sich ihre Lippen bewegten. »Du wirst den Schleier öffnen, damit der Herr der Schatten kommt, mit seiner Herrin der Dunkelheit.«
Einen Moment lang sah ich sie wieder als Wolf, eine große Bestie, deren Pfoten sich gegen meine Brust pressten.
Der blaue Rauch bedeckte das Maul des Wolfes, als es sich öffnete und sich meiner Kehle näherte. Dabei hatte der Saft
der Blume ein so wundervolles Gefühl in mir hervorgerufen – ich fühlte mich frei von Schmerz und Qual.
Der Wolf flüsterte mir zu: »Du wirst ihr Sklave sein. Du wirst eine Schlange unter ihrem Absatz sein. Dein Fleisch wird sich auftun. Du wirst zu einem Weg zwischen dieser Welt und der nächsten werden.«
Die Stimme des Wolfes schien nun aus der Ferne zu kommen, von einem Ort, der zahlreiche Leagues entfernt war. Ich spürte, wie sich meine Seele von meinem Körper entfernte, hinein in einen Nebel, der so weiß war wie der Nebel in den Marschen.
Ich kannte den Schleier, denn ich hatte ihn zuvor bereits zerrissen.
Zu meiner Linken erblickte ich eine große Feuerexplosion. Darin stand meine Mutter. Ihren Leib bildeten züngelnde Flammen, und sie hob ihren Arm, um nach mir zu greifen. Wie in einem Traum griff ich ebenfalls nach ihr, und ihr Leib zerfiel zu Asche. Zu meiner Rechten kam mein Bruder Frey durch das Feuer. Sein Körper war durch die Waffen des Krieges zerfetzt, sein Gesicht hing ihm halb vom Schädel herab. Er stand da und starrte mich an, als hätte ich ihm etwas Böses angetan und er mir noch nicht vergeben. Aber auch er löste sich in eine Rauchsäule auf, als das Feuer erstarb. Und alles wurde neblig, obwohl der Geruch nach Glut zurückblieb.
Dort in dem Nebel sah ich Merod Al-Kamr, den Priester des Blutes, den ich durch seinen Tod in meinen Leib geholt hatte, indem ich ihn verschlang, um die große Prophezeiung der Medhya zu erfüllen, der Dunklen Madonna, der Herrin der Dunkelheit, der Mutter der Vampyre und der Vernichterin der Vampyre.
Da war Merod, sein geschorener Kopf war mit jenen Bildworten tätowiert, die ich einst auf ihm zum Leben hatte erwachen sehen; seine Tunika war nach antihem Stil gewickelt; seine großen, klauengleichen und lederartigen Flügel schlugen langsam – aufgrund eines Windes, der nicht zu spüren
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