Die kalte Koenigin
wenn du frei wärest?«
»Ich würde allen hier die Augen ausreißen und die Herzen herausschneiden«, entgegnete sie mit einem Geräusch in der Kehle, das beinahe wie ein Knurren klang.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
»Jehan«, antwortete sie.
»Jehan, schwörst du, dass du diesem Schicksal nicht entkommen kannst?«
Sie nickte.
Da flüsterte ich ihr etwas ins Ohr, indem ich dem Publikum einen Seitenblick zuwarf. Viele von den Leuten hatten sich zum Rand der Mauer begeben und klammerten sich an das dicke Geflecht, das sie vor uns beschützte. »Wenn ich dich in das Reich holen würde, in welchem ich lebe, das Reich der Unsterblichkeit, so würdest du Blut trinken müssen, um zu überleben. Und du würdest niemals die Sonne wiedersehen, ebenso wenig wie diejenigen, die du liebst. Und diese Leute überall um dich herum würden danach trachten, dich in diese Arena zu sperren, so dass sie zu ihrer Erheiterung erneut sehen könnten, wie dein Blut vergossen wird.« Auf den Bänken des Pavillons entstand Unruhe, als Enora selbst aufstand und so nah wie sie nur konnte an den Rand der Arena herunterkam.
»Das macht mir nichts aus«, erwiderte sie. »Ich hasse sie. Ich hasse sie, seitdem ich ein Kind war. Seit sich alles verändert hat. Seit den Plagen. Seit ich zusehen musste, wie meine Schwestern verbrannt wurden, während sie Gott um Gnade
anflehten. Während sie die Weißen Roben um Hilfe anflehten. Während sie die unheilige Herrin dieses Landes um ihr Leben anflehten.«
»Wenn ich dein Leben hier und jetzt nähme«, sagte ich, »so könnte ich es auf eine Weise tun, die dir keine Schmerzen bereiten würde. Der Tod wäre nur ein kurzer Schlaf. Aber wenn ich dir den Atem der Unsterblichkeit einhauchte...«
»Tu es«, flehte sie mich an. »Verleih mir Unsterblichkeit. Bitte. Ich will so sein wie du.«
»Gibt es eine Familiengruft? Denn du musst bald, nachdem du von der Schwelle zwischen Leben und Tod zurückgekehrt bist, gefunden und von dort fortgebracht werden.«
Sie nickte. »Die Weißen Roben kümmern sich darum, da mein Onkel einst ein Vertrauter von Herrin Enora persönlich war.« Sie teilte mir den Familiennamen dieser Gruft mit. Ich hatte ihn vor langer Zeit gut gekannt. »Sensterre«, sagte sie. Es war der Name eines Mannes, der mir einst vertraut – und beinahe wie ein Vater zu mir gewesen – war, bevor er sich in meiner Jugend dann doch gegen mich gewandt hatte.
Der Name des Geistes, der zu dem Aschling gesprochen hatte.
Es handelte sich um Kenan, den Jäger, der einst meine Mutter geliebt hatte.
Der einst mich geliebt hatte, beinahe wie einen zweiten Sohn.
»Ich kannte deinen Onkel«, erzählte ich ihr.
»Ja«, entgegnete sie traurig. »Er vertraute seinem eigenen Bastard, Corentin, und trachtete danach, dich zu zerstören. Aber er bereute und wandte sich gegen Enoras Hof. Vor einem Jahr wollte er dich aus dem Brunnen befreien. Doch sie
erwischten ihn und folterten ihn viele Monate lang. Sie versuchten ihn dazu zu zwingen zuzugeben, dass er mit dem Teufel im Bunde war, aber das tat er nicht. Und als sie ihm schließlich die Haut von Rücken und Brust abgezogen hatten und sein Haupt auf den Richtblock drückten, um es ihm abzuschlagen, schrie er der Menge zu, dass die Rache über sie kommen würde, auf den Flügeln des Teufels selbst käme sie gereist. Damit meinte er dich, Aleric, Falkner der Baronie. Doch ich will diese Flügel des Teufels ebenfalls besitzen. Ich will eine von euch sein, so dass ich Rache üben kann, so wie er es sich von mir gewünscht hätte.« Ihre Augen leuchteten, als stünden sie in Flammen, und in den Worten, die sie sprach, war ihre Erregung zu vernehmen. »Lass mich so werden, wie du bist«, sagte sie. »Denn ich bin tot, und auf diese Weise würde ich von den Toten auferstehen, um dieses Übel aus meinem Heimatland zu vertreiben.«
Das Publikum hatte begonnen, uns Flüche entgegenzuschreien, aber als ich Jehan in meine Arme nahm und hochhob, jubelten sie und ermahnten mich, das Spiel zu beenden – ich solle von ihr trinken.
Ewen, der sich gegen Midias lehnte, damit dieser ihn stützte, hatte sich uns genähert. Ich gab beiden ein Zeichen, sich bei mir einzufinden.
»Wir werden sie ausbluten lassen, wir alle drei«, sagte ich. Ich konnte sehen, wie Midias’ Zorn erneut erwachte, und als Zeichen der Beruhigung hielt ich meine Hand hoch. »Aber wir werden es so machen, dass sie nicht leidet. Wir werden dem Publikum ein Schauspiel bieten, wie es dies noch nicht
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