Die kalte Koenigin
Träumen von Menschen auftauchten, sondern die Untoten, die im Fleische auferstanden waren, in einer Farce des ewigen Lebens.
Das Quecksilber bewegte sich in dem Glas erneut, und die Gesichter verschwanden. Die Schichten meines eigenen Schädels, meiner lederartigen Haut und meiner Knochen zerrissen, als wären sie verschlissen.
Jemand anders befand sich dort im Spiegel, der mich anstarrte. Es war weder ein Leichnam noch mein eigenes Antlitz, sondern der Priester des Blutes, Merod Al-Kamr.
Sein Gesicht war wutverzerrt, und er verhöhnte mich, indem er auf mich zeigte, als wollte er mich verfluchen. »Du hast zu lange gewartet! Glaube nicht den Lügen des Spiegels, Falkner. Erliege nicht diesen Gefühlen der Hoffnungslosigkeit,
die dir und deinen Geschwistern gesandt wurden. Der Tod ist die Illusion, und der verrottende Leichnam ist die Lüge. Du bist die Wahrheit. Spiegelbilder und Schatten liefern bestenfalls eine Halbwahrheit. Warum hast du mich nicht angehört? Ich bin in Visionen zu dir gekommen, und du hast mich ignoriert.« Er stand da, wie er es beim letzten Mal getan hatte, als ich ihn gesehen hatte – mit geschorenem Schädel, die Augen wie lichtdurchlässige schwarze Kugeln, hinter denen leuchtend rotes Blut pulsierte. Eine blaue Robe war um seine Schenkel geschlungen und um seine Füße drapiert. Seine Brust zeigte Tätowierungen, die von der Geschichte der Vampyre und der Priester der Medhya erzählten. Seine Flügel, die größer waren, als ich sie je bei einem anderen Vampyr gesehen hatte, breiteten sich lang und prächtig wie ein wogender Umhang hinter ihm aus.
»Wie kommst du... hierher?«, fragte ich.
»Ich bin in deinem Inneren, Maz-Sherah«, antwortete er, und der Zorn auf seinem Gesicht schwand, während er sprach. »Denn da du mich verschlungen hast, wohne ich in dir. Aber da gibt es Zeremonien, die du vollziehen musst. Der Winter nähert sich zu rasch, und der Alchimist weiß, dass dir nur noch wenige Nächte bleiben, um die heiligen Gegenstände für diese Zeremonien zusammenzutragen.«
Als er dies aussprach, löste sich das Spiegelbild auf, und ich erblickte erneut jene Vision, die mich von dem ersten Moment an heimgesucht hatte, da ich Merod in seiner Grabstätte in Alkemara wieder zum Leben erweckt hatte:
Da war Merod mit dem Stab der Nahhashim in der Hand.
Hinter ihm stand ein Steinaltar.
Eine Jungfrau lag auf dem Altar, die Ellbogen aufgestützt.
Sie sah mich an, und ihr Gesicht war mit einer schrecklichen Goldmaske bedeckt. Auf der Maske war das Gesicht von Datbathani zu sehen, in deren Haar Schlangen geflochten waren. Es war die Schlangengöttin, die von unserem Stamm »Herrin der Schlangen« genannt wird.
»Unsterblichkeit ist kein Geschenk«, sagte Merod. »Es handelt sich dabei um eine heilige Verpflichtung, selbst der Beute gegenüber. Ein Opfer muss gebracht werden. Eine Buße für die Göttin unseres Stammes. Wir können die kommenden Kriege nicht vermeiden, wenn wir zurückkehren, um jene zu bekämpfen, die uns zu vernichten wünschen. Diejenigen, die die Erde verfinstem wollen, haben den Weg zum Altar bereits gefunden. Die Zeichen sind da, Maz-Sherah. Die Omen des Großen Übergangs sind da. Du bist dazu geboren. Es ist dein Schicksal, hier deinen Platz einzunehmen. Hebe den Stab der Nahhashim auf. Finde das Schwert des Feuers. Hole die Maske aus dem Land, in das meine Tochter floh, in der Ferne jenseits des Meeres, jenseits des Weltenrandes. Dort gibt es Vampyre unserer Stämme, solche, die älter sind als selbst die der medhyanischen Linie. Vielleicht ist der Jungfrau der Naturkräfte nicht zu trauen, aber du brauchst sie. Letztlich, Falkner, sind wir nichts anderes als Tore, die sich vor der Dunklen Madonna, Medhya, schließen müssen, die diese Welt niemals in Fleisch oder Blut betreten darf. Sie ist der Wahnsinn der Vernichtung, und nur du vermagst es möglicherweise, die Zeremonien zu vollziehen, welche eine Macht entfesseln werden, die stark genug ist, um sie aufzuhalten. Stark genug, um gegen ihre Anhängerschaft, ihre Bluthunde und Schatten vorzugehen. Du wurdest nicht geboren, um ein Leben wie andere Menschen zu führen. Und du kehrtest auch nicht vom Tode
zurück, um so wie andere Vampyre zu sein. Du bist die Hoffnung für die Unsterblichen und die Sterblichen.« Dann sprach er mit erhobener Hand eine Warnung aus. »Du wirst hier gefoltert werden. Du wirst diese Qualen erdulden, die auch andere schon erlitten haben. Du musst deine Willenskraft einsetzen und
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