Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
hoffe, wir sehen uns irgendwann mal wieder«, sagte Martin.
    Radek lächelte verlegen. »Eines sage ich Ihnen jetzt schon, Mister – das nächste Mal bin ich nicht so blöd und knöpfe Ihnen nur einen lausigen Dollar die Stunde ab.«
    Radek biss die Zähne zusammen und neigte den Kopf. Martin hielt sich nicht zurück – er wusste, dass Radeks Geschichte mit einer böseren Wunde am Kopf überzeugender wäre. Er packte die Pistole am Lauf und zwang sich, mit vor Mitgefühl verzogener Miene, kräftig zuzuschlagen. Die Kopfhaut platzte auf und der junge Mann sackte benommen auf die Knie.
    »Danke«, stöhnte er noch, bevor er das Bewusstsein verlor.
    »Ungern geschehen«, erwiderte Martin.
    Er nahm seine Sachen und lief über die Gangway zum Kai, wo keine Menschenseele zu sehen war. Radeks Skoda stand in der Dunkelheit links von ihm. Er öffnete die Tür und warf seine Sachen auf den Beifahrersitz. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor sofort an. Er sah auf die Tankuhr – voll, genau wie Radek gesagt hatte. Er legte den Gang ein und fuhr den Kai hinunter. Nach etwa einem halben Kilometer erkannte er im Scheinwerferlicht die Auffahrt zur Straße. Plötzlich trat Martin auf die Bremse. Er machte das Licht aus und hielt im Schatten der Kaimauer. Einen Moment lang blieb er reglos sitzen, während sein Herzschlag ihm in den Ohren hämmerte. Ein alter Instinkt hatte in der Hirnhälfte, die für das Spionagehandwerk zuständig war, Alarm ausgelöst. Er zog die deutsche Pistole aus der Jackentasche, entfernte das Magazin, drückte die erste der eiskalten 9-Millimeter-Patronen heraus und wog sie in der Hand.
    Er hielt den Atem an. Die Kugel sah normal aus. Aber sie war zu leicht!
    Was der hagere Mann im Verhör gesagt hatte, stimmte nicht: Martin hatte seine beste Zeit noch nicht hinter sich.
    Die Patronen einer Waffe zu überprüfen gehörte zu den Lektionen, die Dante Pippen gelernt hatte, als er mal mit einer sizilianischen Mafiafamilie zu tun hatte. Wenn du jemandem eine Schusswaffe gibst oder irgendwo liegen lässt, wo sie gefunden werden soll, besteht immer die Gefahr, dass sie gegen dich verwendet werden konnte. In Sizilien war es ein richtiger Sport, jemandem eine Schusswaffe unterzuschieben, die mit Dummypatronen geladen war, die echt aussahen und sich auch wie echte Kugeln anhörten, wenn man abdrückte. Aber Dummypatronen hatten nicht das gleiche Gewicht wie echte Patronen – wer sich mit Schusswaffen auskannte, spürte den Unterschied.
    Radek wollte ihn ins Messer laufen lassen.
    Martin hatte wieder den schmerzlichen Blick des jungen Mannes vor Augen, hörte wieder, wie er mit vor Aufrichtigkeit triefender Stimme sagte: Ich bin nicht der, der ich zu sein scheine.
    Wer von uns ist schon der, der er zu sein scheint?
    Martin überlegte, ob er zurückfahren und Susanna Slánská befreien sollte. Doch er ließ die Idee gleich wieder fallen – wenn er ihretwegen zu dem Hausboot zurückkehrte, würden sie merken, dass er ihren Plan durchschaut hatte. Und sie würden auf Plan B zurückgreifen, der zweifellos weniger aufwendig wäre, aber rascher ans Ziel führte.
    Martin konnte sich vorstellen, wie Plan A aussah: Der Gefangene, der im Besitz diverser gefälschter Ausweispapiere war, als er in Gesellschaft einer Waffenhändlerin festgenommen wurde, überwältigt den Beamten, der ihn bewachen sollte, nimmt dessen Pistole an sich und flieht aus dem Safe House, in dem er verhört wurde, Richtung Österreich. Irgendwo unterwegs bei einer Verkehrskontrolle oder vielleicht erst an der Grenze wird er aufgefordert, seinen Pass zu zeigen. Vor Augenzeugen zieht er die Pistole, um sich den Weg frei zu schießen, und wird von einem Polizisten oder Grenzbeamten niedergestreckt. Klarer Fall von Notwehr. So was war heutzutage in den ehemaligen Randstaaten der Sowjetunion schon fast an der Tagesordnung.
    Jetzt, da Martin wusste, dass er in eine Falle gelockt werden sollte, konnte er den Skoda natürlich nicht mehr benutzen. Wenn er das Auto aber irgendwo in einer Seitenstraße parkte, wo es vielleicht erst nach Stunden oder sogar Tagen entdeckt wurde, würde die Polizei wertvolle Zeit damit vergeuden, auf den Straßen Richtung Österreich nach dem Fahrzeug Ausschau zu halten. Sobald er den Skoda irgendwo abgestellt hatte (die Pistole würde er in den Fluss werfen, aber die Patronen auf dem Fahrersitz liegen lassen, um Radek zu ärgern), musste er auf dem schnellsten Weg das Land verlassen: Den ganzen Tag über fuhren Züge

Weitere Kostenlose Bücher