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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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führen.«
    »Tun wir aber. Die Tatsache, dass du anrufst, ist erotisch. Der Klang deiner Stimme von Gott weiß woher ist erotisch. Die Stille, wenn wir beide nicht recht wissen, was wir sagen sollen, aber noch nicht auflegen wollen, ist unglaublich erotisch.«
    Sie schwiegen beide. »Es steht noch lange nicht fest, dass wir je ein Paar werden«, sagte Martin schließlich. »Aber falls ja, müssen wir jedes Mal so miteinander schlafen, als könnte es das letzte Mal sein.«
    Seine Bemerkung raubte ihr den Atem. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich habe das Gefühl, wenn wir je miteinander schlafen sollten, würde die Zeit stehen bleiben, der Tod würde aufhören zu existieren, Gott würde überflüssig.« Sie wartete, dass Martin etwas sagte. Als er es nicht tat, fuhr sie rasch fort: »Es macht mich wahnsinnig, dass wir uns erst vor kurzem kennen gelernt haben – ich habe so viel Zeit verloren.«
    »Mm-hm.«
    »Übersetz das bitte.«
    »Zeit kann man nicht verlieren«, sagte Martin. »Erinnerungen wohl.«
    Er lauschte auf ihren Atem am anderen Ende der Leitung viertausend Meilen entfernt. »Es wäre doch möglich«, sagte er, »dass wir wegen der großen Entfernung zwischen uns so viel Nähe spüren – weil das Telefon für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgt. Es wäre doch möglich, dass die Nähe verpufft, wenn wir uns wiedersehen.«
    »Nein. Nein. So wird es nicht sein. Das weiß ich. Bevor Kastner und ich in die USA gingen, war ich in einen jungen Russen verliebt, zumindest dachte ich das. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, es war eine körperlich lustvolle Erfahrung, wie das eben so ist, wenn man das erste Mal verliebt ist. Mit Erotik hatte es nichts zu tun. Dazwischen liegen Welten. Mein russischer Freund und ich haben ständig geredet, wenn wir uns nicht gerade auf einem schmalen Bett in irgendeinem Zimmerchen begrapscht haben. Im Nachhinein kommt es mir wie eine endlose Kette von Worten vor, ohne Zwischenraum. Ich kann mich an Gespräche erinnern, bei denen es kein Schweigen gab. Wie bei der Atomspaltung, die Energie erzeugt. Das Gleiche geht auch mit Worten. Worte enthalten Energie. Du kannst sie spalten und die freigesetzte Energie für dein Liebesleben nutzen. Bist du noch dran, Martin? Wie würdest du meine Beziehung zu dem jungen Russen deuten?«
    »Ich würde sagen, du warst noch nicht bereit. Ich würde sagen, jetzt bist du es.«
    »Wozu bereit?«
    »Bereit für nackte Wahrheiten, im Gegensatz zu einem Häppchen Wahrheit.«
    »Merkwürdig, dass du das sagst. Kennst du Leben und Schicksal von Wassilij Grossman? Ein großartiger russischer Roman, einer der besten, kann es glatt mit Krieg und Frieden aufnehmen. Grossman sagt an einer Stelle, er kann nicht mit kleinen Bröckchen Wahrheit leben – er sagt, ein Bröckchen Wahrheit ist gar keine Wahrheit.«
    Martin sagte: »Ich musste mich bisher mit Bröckchen begnügen – vielleicht drängt mich ja gerade das dazu, Samat zu finden. Vielleicht liegt ja irgendwo in der Samat-Geschichte eine nackte Wahrheit.«
    »Wieso sagst du das?«
    »Ich weiß nicht.« Er lachte leise. »Intuition. Instinkt. Verzweifelte Hoffnung, dass es ja doch eine Macht auf der Welt gibt, die Humpty Dumpty wieder zusammensetzen kann.«

1997: MARTIN ODUM WIRD DES HOCHVERRATS BEZICHTIGT
    »Sehen Sie, da, direkt vor uns – da sind die Wracks«, rief Almagul über den Lärm des betagten sowjetischen Außenbordmotors hinweg, der ihr acht Meter langes Boot über den Aralsee zur Insel Wosroschdenije beförderte. »Vor zehn Jahren waren da eine Bucht und der Hafen von Kantubek. Die Schiffe, die Sie da sehen, sind gestrandet, weil der Wasserspiegel stark sinkt, seit die Flüsse, die den See speisen, zur Bewässerung genutzt werden.«
    Martin schirmte die Augen mit einer Hand ab und spähte ins grelle Sonnenlicht. Er konnte die Gerippe eines Tankers, eines Schleppers und eines Torpedobootes erkennen, insgesamt acht Schiffe, halb im Sand und den Salzablagerungen der ehemaligen Bucht versunken. »Ich sehe sie«, rief er dem jungen Mädchen zu.
    »Sie müssen sich die Handschuhe anziehen«, erwiderte sie und hob eine Hand von der Ruderpinne, um zu zeigen, dass sie ihre schon trug, sie sogar über die Ärmel ihres abgenutzten Fischerpullovers gezogen hatte. Martin streifte sich die Küchenhandschuhe aus Latex bis über die Manschetten seines Hemdes und sicherte sie mit einem dicken Gummiband am Handgelenk. Dann knotete er sich Dantes weißen Seidenschal als Glücksbringer um den Hals und

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