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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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stopfte die Hosenbeine in die knielangen Stutzen, die Almagul ihm gegeben hatte, als sie am Abend zuvor den Amudarja verlassen hatten – einen der beiden Flüsse, die in den Aralsee münden. Während das Boot sich dem Salzstrand näherte, flog eine Schar weißer Flamingos auf, vom Krach des Motors aufgescheucht. Martin erkannte die ersten Gebäude von Kantubek, das nur noch eine menschenleere Ruinenstadt war, wenn man von den Plünderern absah, die vom Festland kamen und alles mitnahmen, was von dem einst grandiosen Schauplatz der sowjetischen Biowaffentests noch übrig war. Almagul, die behauptete, sechzehn zu sein, obwohl sie ein oder zwei Jahre jünger aussah, war früher regelmäßig mit ihrem Vater und ihrer Zwillingsschwester hergekommen. Aber die beiden waren vor zwei Jahren gestorben – an einer rätselhaften Krankheit mit Symptomen wie Fieber, geschwollenen Lymphknoten und verschleimter Nase. Auf der Insel hatte der Vater mit seinen Töchtern nicht nur Blei und Aluminium und mit Zink beschichtete Wasserrohre und Kupferdraht gesammelt, sondern auch Herde und Spülen und Wasserhähne, notfalls sogar Dielenbretter, die sie in den Häusern aus dem Fußboden rissen. Ihre Beute verkauften sie dann auf dem Festland an Männer, die damit ihre Lkws beluden und über die staubigen Ebenen nach Nukus oder nach Aralsk in der kasachischen Steppe fuhren. Seit dem Tod ihres Vaters und ihrer Schwester war Almagul nicht mehr auf Wosroschdenije gewesen, aber nachdem Martin erfahren hatte, dass sie als Einzige in Nukus ein Boot mit funktionierendem Außenbordmotor besaß und sich auf der Insel auskannte, hatte er ihr ein großzügiges Angebot gemacht – und es verdoppelt, als sich herausstellte, dass sie seine Sprache beherrschte und bereit war, für ihn zu dolmetschen. Sie hatten das Boot mit Ersatzkanistern Benzin und einem Korb mit Kamelmilchjoghurt, Ziegenkäse und Wassermelonen beladen und waren den Amudarja hinuntergefahren.
    »Da drüben ist Kantubek«, rief Almagul jetzt, als sie auf eine Düne am Fuße der Stadt zusteuerte, nahm dann Gas weg und ließ das Boot im Leerlauf auf das sandige Ufer gleiten. Martin kletterte über den Bug und sprang den letzten halben Meter an Land, drehte sich um und zog das Boot höher auf festen Grund. Almagul, der der erste Besuch auf der Insel seit dem Tod ihres Vater sichtlich nahe ging, trat zu ihm, stemmte die behandschuhten Hände in die Hüften und sah sich nervös um. Sie hatte einen Strick durch die Gürtelschlaufen ihrer Jeans gezogen, und die Hosenbeine steckten in Gummistiefeln, die oben zugebunden waren. Sie trat gegen die zerbrochenen Teströhrchen und Petrischalen, die aus dem Sand ragten, und deutete mit einem Wink auf die Schutthaufen neben dem Weg, der sich die Dünen hoch zu Dutzenden von Holzgebäuden in unterschiedlichen Phasen des Verfalls wand. Martin sah Berge von verrosteten Tierkäfigen in allen möglichen Formen und Größen, halb verfaultes Bauholz, Unmengen kaputter Kisten. Er blickte zum Himmel und schätzte den Stand der Sonne ab. »Ich gehe mal die Stadt erkunden«, sagte er zu dem Mädchen. »Wenn alles gut läuft, bin ich gegen vier wieder da.«
    »Wenn die Sonne untergeht, müssen wir hier weg sein«, teilte Almagul ihm mit. »Mein Vater hatte die eiserne Regel, niemals über Nacht auf der Insel zu bleiben. Bei Tag kann man die Nagetiere sehen, vielleicht sogar die Flöhe. Aber wenn es dunkel wird …«
    Als sie am Abend zuvor den Amudarja hinuntergefahren waren, schön langsam, um nicht den Zorn der Männer zu erregen, die mit Scheinwerfern und Handgranaten an beiden Ufern fischten, hatte Almagul erklärt, welche Gefahren auf Wosroschdenije lauerten. Aus Angst, nach dem internationalen Biowaffenverbot von 1972 könnten amerikanische Inspektoren auf der Insel auftauchen, hatten die Sowjets 1988 in aller Eile tonnenweise bakterieller Erreger in der Erde verbuddelt. Sie hatten auch Tausende Kadaver von Affen, Pferden, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten und Mäusen vergraben, an denen die Tödlichkeit der bakteriellen Erreger getestet worden war. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der Neunzigerjahre gehörte die Insel zu Usbekistan und Kasachstan, doch es wurden keine Anstalten gemacht, die vergrabenen Erreger und Kadaver zu beseitigen, durch die sich die Nagetiere auf der Insel angesteckt hatten. Die Nager überstanden selbst zwar Krankheiten wie Milzbrand, Tularämie, Brucellose, Pest, Typhus, Q-Fieber, Pocken, Butolinumtoxin oder die

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