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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Sand und Staub umwirbelt wurde, und dort fanden die Plünderer eine Rolle Kupferdraht, mit dem sie den Warlord der Insel Wosroschdenije an einen der ausgeschlachteten grünen Laster fesselten. Die Hände banden sie ihm über dem Kopf an den verrosteten Rahmen eines Fensters, sodass seine Füße nur gerade eben mit den Zehenspitzen auf den Boden kamen. Der Warlord wimmerte etwas, und Almagul, die von der Straße aus zusah, rief Martin die Übersetzung zu.
    »Er bittet Sie, ihn hier nicht den Ratten und Flöhen zu überlassen. Er fleht Sie an, ihn zu erschießen.«
    »Frag ihn, wo Samat nach seinem letzten Besuch hier hinwollte«, rief Martin.
    »Ich versteh ihn nicht richtig«, erwiderte Almagul. »Er sagt nur irgendwas über die Gebeine dieses Heiligen, die zurück in eine Kirche in Litauen gebracht werden sollen.«
    »Frag ihn, ob die Kirche in dem Dorf Susowka steht, nicht weit von der Grenze zu Weißrussland.«
    »Ich glaube, er ist verrückt geworden. Jetzt sagt er, dass Samat ein Heiliger ist – immer und immer wieder.«
    Hamlet Achbas unverständliches Gezeter war noch eine Weile zu hören, als Martin und Almagul mit den vier anderen Überlebenden durch die Dünen zum Strand gingen. Irgendwann blieb Martin stehen und drehte sich zu dem Hangar um. Als er schon fast wieder die Dünen hoch zurück zu dem Warlord gehen wollte, hörte er Dantes wildes irisches Lachen im Ohr. Hast du vergessen, welchen Rat die Bibel für Opfer parat hat, wie sie emotional überleben können? Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mann. Als Martin zögerte, seufzte Dante ungeduldig. Was bist du bloß für ein Weichei. Martin musste ihm Recht geben. Mit einem grimmigen Nicken drehte er sich um und folgte den anderen zum Strand. Die Männer spülten sich im See das Blut ab, zogen das Boot vom Sand und kletterten an Bord. Almagul ließ den Motor an, was die weißen Flamingos wild aufflattern ließ. Sie fuhr rückwärts, bis das Wasser tief genug war, um das Boot zu wenden, und gab dann Vollgas. Während Almagul Melone und Ziegenkäse aus dem mitgebrachten Korb verteilte, starrte Martin zurück auf die Geisterstadt Kantubek, die immer kleiner und kleiner wurde, bis sie im Dunst verschwand.
     
    Die ernste Schalterbeamtin im Hauptpostamt von Nukus hatte noch nie ein Auslandsgespräch vermittelt und musste erst das entsprechende Kapitel im Handbuch lesen, ehe sie sämtliche Vorwahlnummern zusammen hatte und wusste, wie das Gespräch berechnet werden musste. Beim dritten Versuch erreichte sie endlich den Anschluss in einem New Yorker Stadtteil, dessen Name ihr nichts sagte – Brooklyn –, und drückte die Schachuhr, um die Dauer des Anrufs zu stoppen.
    »Stella, bist du das?«, rief Martin in der offenen Telefonzelle in den Hörer, während das halbe Dutzend alter Leute, die an einem Schalter Schlange standen, darüber staunten, wie es möglich war, dass jemand seine Stimme durch ganz Europa und über den Atlantik bis in die Vereinigten Staaten von Amerika schicken und im Bruchteil einer Sekunde eine Antwort erhalten konnte.
    »Hast du Samat gefunden?«
    »Ich hätte ihn fast gehabt. Das Basketballfeld war noch schwarz vom Ruß der Motorabgase.«
    »Alles in Ordnung mit dir, Martin?«
    »Jetzt wieder. Eine Zeitlang stand es aufs Messers Schneide.«
    »Was hat ein Basketballfeld mit Samat zu tun?«
    »Das ist in einen Hubschrauberlandeplatz umfunktioniert worden. Im Gegensatz zu mir reist Samat erster Klasse. Und ich tuckere in einem Boot mit Außenbordmotor hinter ihm her. Wie kommst du mit deinem neuen Schneidezahn klar?«
    »Ich muss sagen, du hattest Recht – der alte Zahn hatte einen gewissen Charme, auch wenn ich damit zerbrechlich ausgesehen habe. Wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mich selbst nicht wieder.«
    »Schlag doch einfach von dem neuen eine Ecke ab.«
    »Sehr witzig. Martin, werd jetzt bitte nicht böse, aber du bist doch auf der Suche nach Samat, oder?«
    »Was soll die Frage?«
    »Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Ich meine, ich kenne dich eigentlich kaum. Ich glaube zwar nicht, dass du ein Serienkiller bist oder so, aber du könntest ein Serienlügner sein. Wäre doch möglich, dass du aus Manhattan anrufst und alles andere erfindest.«
    »Ich rufe aus einem Postamt in Usbekistan an. Für die Frau, die den Anruf vermittelt hat, war das die erste Auslandsverbindung ihres Lebens.«
    »Ich möchte dir ja glauben. Wirklich. Aber die Leute, für die du gearbeitet hast – du weißt schon –, haben gestern eine

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