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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Psychiaterin hergeschickt, eine Bernice Treffler. Sie hat gesagt, dass sie dich behandelt hat, nachdem du entlassen wurdest.«
    »Was hat sie noch gesagt?«
    »Sie hat gesagt – ach, Martin …«
    »Spuck’s aus.«
    »Sie hat gesagt, du seist nicht ganz richtig im Kopf. Stimmt das, Martin?«
    »Ja und nein.«
    Stella fuhr aus der Haut. »Was ist denn das für eine Antwort, verdammt nochmal? Entweder es stimmt, oder es stimmt nicht. Dazwischen gib es nichts.«
    »Das ist komplizierter, als du denkst. Es gibt etwas dazwischen. Ich bin nicht verrückt, aber ich kann mich an manche Sachen nicht erinnern.«
    »Was für Sachen?«
    Die Schalterbeamtin beobachtete die Schachuhr und sagte leise etwas zu Almagul, die daraufhin zu Martin kam und ihn am Ärmel zupfte. »Sie sagt, das Telefonat kostet Sie bereits so viel, wie sie in einem Jahr verdient.«
    Martin winkte das Mädchen weg. »Irgendwann«, sagte er zu Stella, »ist mir entglitten, welche von den diversen Häuten, in denen ich gesteckt habe, mein wahres Ich war.«
    Er hörte Stella ins Telefon seufzen. »Na toll! Ich hätte wissen müssen, dass das alles zu schön ist, um wahr zu sein.«
    »Stella, hör doch mal. Was mit mir nicht stimmt, ist nichts Schlimmes, weder für mich noch für uns.«
    »Uns?«
    » Uns, ja, darum geht es hier doch, oder?«
    »Wow! Ich gebe zu, es gibt Augenblicke, da klingst du, als seiest du nicht ganz richtig im Kopf. Und dann wieder klingst du für meine Begriffe vollkommen normal.«
    »Ich bin unvollkommen normal.«
    Stella fing an zu lachen. »Mit Unvollkommenheit kann ich leben –«
    Plötzlich war die Leitung tot. »Stella? Stella, bist du noch da?« Er rief Almagul zu: »Sag ihr, die Verbindung wurde unterbrochen.«
    Als Almagul übersetzte, drückte die Schalterbeamtin die Schachuhr und errechnete die Kosten des Anrufs mit einem Abakus. Dann schrieb sie den Betrag auf einen Zettel und hielt ihn hoch, damit alle im Postamt sahen, was für ein Vermögen dieser geistesgestörte Ausländer für ein einziges Telefongespräch ausgegeben hatte.

1997: MARTIN ODUM KOMMT IN EINE FRAUENFREIE ZONE
    Martin Odum steuerte den Lada, den er in Hrodna – der letzten großen Stadt vor der litauischen Grenze – gemietet hatte, an den Rand der Landstraße. Er stellte den Motor ab und spazierte zu einer moosbewachsenen Böschung über der Memel, wo er gegen eine verkohlte Eiche pinkelte, die aussah, als sei sie vom Blitz getroffen worden. Die Grenze hatte er in einem staubigen Dorf überquert, das halb zu Weißrussland, halb zu Litauen gehörte und einen zungenbrecherischen Namen hatte. Die jungen Grenzbeamten, die sich neben einem kleinen Kabuff auf der Hauptstraße des Dorfes in Liegestühlen sonnten, hatten ihn durchgewinkt, ohne auch nur einen Blick in den kanadischen Pass zu werfen, der auf den Namen Josef Kafkor ausgestellt war. In regelmäßigen Abständen war die Straße von Schafherden blockiert worden, durch die er sich hupend hindurchgetastet hatte. Das letzte Schild vor der Pinkelpause hatte ihm verraten, dass sein Ziel, das Städtchen Susowka, nur noch achtzehn Kilometer entfernt lag. Martin rechnete damit, dass es nach der nächsten Flussbiegung auftauchen müsste. Hoch am Himmel verschwand ein Passagierflugzeug, dessen Kondensstreifen sich hinter ihm in einer lang gezogenen Federwolke auflöste. Augenblicke später erst drang das ferne Dröhnen der Triebwerke an Martins Ohr, und er hatte das Gefühl, der Lärm versuchte die Motoren einzuholen, die ihn erzeugten.
    Er wünschte, er säße jetzt in der Maschine und könnte den Blick über das baltische Flachland schweifen lassen, unterwegs nach Hause, unterwegs zu Stella. Er wünschte, er müsste nicht mehr jedes Mal über die Schulter nach hinten schauen, ehe er auf eine Straße trat, er wünschte, die Suche nach Samat wäre vorbei und er könnte sich wieder zu Tode langweilen, was seine gelegentliche chinesische Freundin Minh einmal als Selbstmord in Zeitlupe bezeichnet hatte.
    Gleich hinter der Grenze nach Litauen hatte der Verkehr in Richtung Susowka merklich zugenommen – offene Laster mit Menschen auf der Ladefläche, klapperige, voll besetzte Busse und immer wieder Männer, die in weiten Hemden und Hosen am Straßenrand dahintrotteten. Seltsamerweise trug jeder von ihnen eine Mistgabel über der Schulter oder etwas, das aussah wie ein grober Knüttel aus Eichenholz mit einem Knauf an einem Ende. Als Martin jetzt zurück zu seinem Wagen ging, zogen zwei zottige Gäule einen mit

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