Die kalte Legende
Burnsides Armee Reißaus genommen und die geistesgestörten Frauen einfach sich selbst überlassen. Ich stahl mir einen Pflegerkittel aus dem Waschhaus hinter der Anstalt, zog ihn an und spazierte durch Fredericksburg. Die Stadt war wie ausgestorben, bis auf die Wächter, die mich mit meinem weißen Kittel für jemanden vom Anstaltspersonal hielten. Ich prägte mir alles ein, was ich sah. Fredericksburg selbst sollte offenbar nicht verteidigt werden, obwohl hin und wieder ein Scharfschütze von irgendeinem Gebäude am Ufer über den Fluss feuerte. Ich verließ die Stadt und überquerte das flache Stück bis Marye’s Heights. Ich sah nirgendwo Schützengräben oder Erdlöcher und fragte mich schon, ob die Schlacht überhaupt stattfinden sollte. Dann kam ich zu dem Hohlweg unterhalb des Hügelkamms, wo eine Steinmauer verlief, und da wusste ich, dass es eine Schlacht geben würde, und dass die Unionsarmee sie verlieren würde. Es wimmelte nämlich überall nur so von Konföderierten, die sich gefechtsbereit machten. Ich sah Scharfschützen, die die Messingzielfernrohre ihrer Whitworths polierten und die Papierpatronen auf der Mauer parat legten, ich sah Kanonen mit gestapelten Kugeln neben den Rädern, Offiziere zu Fuß, mit Säbeln und langen Pistolen, die neu eintreffende Truppen einwiesen. Ich sah Fahnen der Konföderierten und der einzelnen Regimenter zusammengerollt an den Bäumen lehnen, damit die Unionssoldaten nicht merkten, was sie erwartete, bis es dann zu spät war, um umzukehren. Die einzige entrollte Fahne, die ich mit bloßem Auge erkennen konnte, war die des 24. Georgia-Regiments, raue Kerle und unglaublich gute Schützen, wenn sie nüchtern waren. Es gab keine Möglichkeit, den Hohlweg und die Steinmauer zu umgehen – nach rechts hin war das Gelände zu morastig, nach links hin zogen sich der Weg und die Mauer endlos weit. Einige Male wurde ich von Wachen angesprochen, aber mit ein paar Witzchen über die Irren konnte ich mich durchmogeln. Ich stieg den Hügel hoch, und als ich den Kamm erreichte, wollte ich meinen Augen nicht trauen, denn dahinter, außer Sichtweite von Pinkertons Männern, die von Ballons aus durch Ferngläser spähten, hatte sich die größte Armee versammelt, die ich je gesehen hatte. Es gab mehr Kanonen, als ein Mensch zählen konnte. Soldaten wässerten die Straßen, damit kein Staub aufgewirbelt wurde, wenn Pferdegespanne die Geschütze hinter frisch aufgeworfenen Erdwällen in Stellung zogen. Eine Musikkapelle spielte Walzer für die Schaulustigen, die aus Richmond gekommen waren, um sich die Schlacht anzusehen. Als ich kurz darauf an einem großen, grauen Zelt vorbeikam, sah ich drei Generäle, die auf einem Tisch ausgebreitete Karten studierten. Einer, in einer weißen Uniform, musste Bobby Lee sein, der Zweite in schlichtem Grau mit Federn am Hut sah aus wie George Pickett (er war also mit seiner Division früher eingetroffen als erwartet und reihte sich in die Schlachtordnung ein), der Dritte, der sich ein Damenschultertuch umgelegt hatte, musste Old Pete Longstreet sein. Aus Neugier ging ich näher ran, was ich besser nicht getan hätte. Ein junger Offizier in einer nagelneuen Uniform mit Schärpe sprach mich an. Meine Geschichte, ich wäre der letzte Pfleger, der die Anstalt verlassen hatte, überzeugte ihn nicht, und er brachte mich zum Divisionszelt. An Flucht war nicht zu denken – er hätte bloß Alarm schlagen müssen und ich wäre von tausend Soldaten umzingelt gewesen. Könnte ich wohl ein Glas Wasser haben?«
»Ja, sicher.« Dr. Treffler ging hinüber zum Sideboard und goss aus einer Plastikflasche ein Glas ein. Die ganze Zeit spürte sie, wie Lincolns Augen sie verfolgten. Bedauerte er, keine Psychiaterin zu haben, die mit ihren Patienten schlief?
Lincoln trank das Glas Wasser in einem langen Zug aus und fuhr dann mit einem Finger über den Rand, während er den Faden seiner Geschichte wieder aufnahm. »Ich wurde von einem untersetzten Offizier mit silberner Mähne vernommen, der an zwei Krücken ging. Als er mit meinen Antworten nicht zufrieden war – ich sagte, ich käme aus Pennsylvania und wäre in den Süden gegangen, um die Rechte der Einzelstaaten und die Sklaverei zu verteidigen, denn niemand, der halbwegs bei Verstand sei, würde wollen, dass Millionen freigelassene Sklaven in den Norden strömten und den Leuten die Arbeit wegnähmen –, musste ich mich ausziehen, und er nahm jedes Kleidungsstück unter die Lupe. Dabei fand er den Uhrenanhänger
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