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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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mit dem Logo von Alan Pinkertons Detektei drauf – ein weit geöffnetes Auge –, ein Geschenk von Alan aus der Zeit, als wir zusammen Eisenbahnräuber und Viehdiebe jagten. Der alte Offizier erkannte es sofort, und meine Erklärung, ich hätte den Anhänger einer Frau in der Anstalt abgenommen, überzeugte ihn nicht. Sie sind ein Spion der Unionisten, sagte er. Schließen Sie Frieden mit Ihrem Schöpfer, denn Sie werden im Morgengrauen exekutiert. «
    Lincoln durchlebte alles wieder hautnah und wischte sich jetzt mit dem Handgelenk den Schweiß von der Stirn. »Ich durfte mich wieder anziehen, dann fesselte man mir die Füße so, dass ich gehen, aber nicht rennen konnte, und brachte mich in einen Lazarettwagen. Dort musste ich mich vor eine Holzkiste setzen und bekam Papier und Feder, um ein paar letzte Zeilen an meine Lieben zu schreiben. Es wurde zu der Jahreszeit früh dunkel. Das Polarlicht, ein seltener Anblick in der Gegend, flackerte wie geräuschloses Kanonenfeuer im Norden, als würde hinter dem Horizont eine große Schlacht geschlagen. Man brachte mir eine Öllampe, einen Blechteller mit Zwieback und Wasser, aber ich konnte nicht mal meine eigene Spucke runterschlucken, weil der Kloß im Hals, den ich als Angst erkannte, zu dick war. Ich wollte meinen Eltern schreiben und einem Mädchen, das zu Hause in Pennsylvania mein Liebste gewesen war. Ich wollte ihnen erzählen, was mir widerfahren war, und begann so: Ich nutze die Gelegenheit, um Euch ein paar Zeilen zu schreiben. Gesundheitlich geht es mir gut, aber das wird sich bald ändern. Ich musste den Brief abbrechen, weil mein Verstand vor Angst so benebelt war, dass er nicht mehr die Worte fand, meinen Zustand zu beschreiben. Das alles, so redete ich mir ein, konnte nur ein einziger schrecklicher Traum sein, aus dem ich jeden Augenblick wieder aufwachen musste. Aber das Holz der Kiste fühlte sich klamm und kalt an, und der Schwefel in der Luft – im Operationswagen nebenan wurde einem jungen Soldaten ein Bein amputiert, das von einer umgekippten Kanone zerquetscht worden war, und die Ärzte bestrichen den Stumpf mit Schwefel – brannte mir in den Lungen, und durch den Schmerz wurde mir deutlich bewusst, dass das, was geschehen war und noch geschehen würde, kein Traum war.«
    Dr. Treffler, die gebannt an Lincolns Lippen hing, beugte sich vor, als er nicht weitersprach. »Geben Sie’s zu«, sagte er daraufhin spöttisch, »allmählich dämmert Ihnen, dass ich die Wahrheit erzähle.«
    Als sie zurückhaltend nickte, fuhr er fort. »Ich dachte, ich sollte erhängt werden, aber der alte Offizier mit der Silbermähne und den Krücken hatte etwas noch Grauenvolleres in petto. Bei Tagesanbruch wurden mir die Hände und Ellbogen mit Telegrafendraht auf dem Rücken zusammengebunden, und zwei Uniformierte brachten mich auf die andere Seite von Marye’s Heights, zur Plank Road, die so hieß, weil die zahlreichen Granaten der Unionsarmee so tiefe Löcher in den Weg gerissen hatten, dass sie nicht mehr aufgefüllt, sondern nur provisorisch mit Planken abgedeckt wurden. Als ich am Rand eines solchen Lochs stand, das etwa die Größe eines Planwagenrades hatte, und den daneben bereitliegenden Stapel Planken sah, begriff ich plötzlich, was für eine Exekution mich erwartete. Einer meiner Bewacher kam mit einem Stück Strohpappe, auf dem in großen Lettern Spion Dittmann stand, und befestigte das Schild mit Splinten hinten an meinem Kittel. Gleich darauf konnte ich mir denken, wer sich diese ungewöhnliche Exekution ausgedacht hatte, denn mein Blick fiel auf Stonewall Jackson, der als religiöser Fanatiker bekannt war. Er saß in einiger Entfernung auf einer Anhöhe auf seinem Pferd, und aus seinem Gesicht sprach die pure Bosheit. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und musterte mich lange, als wollte er mich und den Augenblick in sein Gedächtnis einbrennen. Wütend schnippte er die Asche ab und erteilte einen Befehl. Ich war zu weit weg, daher konnte ich nur ein paar Worte verstehen. Begraben, sag ich, aber lebendig … Hunderte von Konföderierten auf dieser Seite des Hügels unterbrachen ihre Arbeit, um bei der Exekution zuzuschauen. Der Offizier mit den zwei Krücken riss einem meiner Bewacher die Zigarette aus dem Mund, kam zu mir und klemmte sie mir zwischen die ausgetrockneten Lippen. Das ist Tradition, sagte er. Der zum Tode Verurteilte hat Anspruch auf eine letzte Zigarette. Zitternd paffte ich an der Zigarette. Das Rauchen und der Rauch, der mir in der

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