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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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ihren Honig. Dann griff er in den schmalen Spalt zwischen Rahmen und Bienenstock und zog das kleine in Wachstuch eingeschlagene Päckchen heraus. Zurück in seiner Wohnung öffnete Martin den Kühlschrank und klemmte eine Plastikschale unter die Tropfrinne. Im schwachen Licht, das aus dem Kühlschrank fiel, faltete er das Wachstuch auf und breitete den Inhalt auf seiner Pritsche aus: ein halbes Dutzend amerikanischer und ausländischer Pässe, ein französisches Familienstammbuch, drei internationale Pässe aus osteuropäischen Ländern, eine Sammlung Plastikführerscheine aus Irland und England und etlichen Ostküstenstaaten, eine Auswahl an Bücherei- und Vielfliegerausweisen sowie Sozialversicherungskarten, einige davon ziemlich abgegriffen. Er nahm die Ausweise und verteilte sie gleichmäßig zwischen dem Pappfutter und dem Deckel des schäbigen Lederkoffers, der mit Aufklebern von diversen Club-Méditerranée-Hotelanlagen verziert war. In den Koffer packte er Hemden, Unterwäsche, Socken und Toilettenartikel, legte obendrauf ein gefaltetes weißes Seidenhalstuch, Dante Pippens Glücksbringer, zog dann einen leichten Dreiteiler und die robusten Schuhe mit Gummisohlen an, die er im Vorjahr beim Wandern mit Minh in den Adirondacks getragen hatte. Als er sich umschaute, ob er noch irgendwas vergessen hatte, fielen ihm die Bienen ein. Er schrieb rasch einen Zettel für Tsou Xing, bei dem er einen Ersatzschlüssel für die Wohnung deponiert hatte, und bat ihn, alle zwei Tage nach den Bienenstöcken zu schauen. Wenn in den Rahmen nicht genug Honig war, dass die Bienen bis zum Frühsommer überleben konnten, würde Tsou wissen, was zu tun war. Er würde mit den Zutaten unter der Spüle Kandiszucker aufkochen und ihn in die Bienenstöcke stellen.
    Martin nahm den Koffer, hängte sich einen alten, aber strapazierfähigen Burberry-Trenchcoat über den Arm und stieg aufs Dach. Er schloss die Tür hinter sich ab und versteckte den Schlüssel unter einem lockeren Backstein in der Brüstung. Als er die Milchstraße am Himmel erblickte, oder das, was man davon auf einem Dach mitten in Brooklyn sehen konnte, musste er an die alawitische Prostituierte denken, der Dante während einer besonders schwierigen Mission in Beirut begegnet war. Er stützte sich auf die Brüstung und beobachtete eine Viertelstunde lang die Albany Avenue, suchte die dunklen Fenster auf der anderen Straßenseite ab, ob sich irgendwo ein Vorhang oder eine Jalousie bewegte oder die Glut einer Zigarette aufglimmte. Als er kein Lebenszeichen entdeckte, überquerte er das Dach und inspizierte die Gasse hinter dem Chinarestaurant. Irgendwo rechts, wo Tsou Xing seinen schönen alten Packard geparkt hatte, regte sich etwas, doch es war nur eine Katze, die versuchte, den Deckel von einer Mülltonne zu stoßen. Als Martin sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, kletterte er die Eisenleiter hinunter und stieg dann vorsichtig die Feuertreppe hinab in den ersten Stock. Dort band er das Seil los und ließ das letzte Stück der Treppe runter auf die Straße (die Laufschienen hatte er alle paar Monate geölt; für Martin war es fast eine Glaubensfrage, sein Handwerk zu beherrschen). Er lauschte noch ein paar Minuten in die Stille hinein, dann stieg er vorsichtig in Tsou Xings Hof hinunter, wo sich Herde und Schnellkochtöpfe und Kühlschränke stapelten, die sich irgendwann für Ersatzteile ausschlachten ließen. Er schob den Zettel unter der Hintertür des Restaurants durch und ging über den Hof zu der Gasse, die zum Lincoln Place führte. Zwei Querstraßen weiter, an der nordöstlichen Ecke der Schenectady Avenue, huschte er in eine Telefonzelle, in der es nach Terpentin stank. Die ersten schwachen Streifen Silbergrau waren im Osten sichtbar, als er auf die Nummer blickte, die in seiner Handfläche notiert war. Er steckte eine Münze in den Schlitz und wählte. Das Telefon am anderen Ende läutete so lange, dass Martin schon fürchtete, sich verwählt zu haben. Er hängte ein, schaute wieder auf seiner Handfläche nach und wählte erneut. Er zählte mit, wie oft es klingelte, ließ es dann bleiben, lauschte einfach auf das Klingeln und fragte sich, was er machen sollte, wenn niemand dran ging. Er wollte schon wieder einhängen – er würde in einen Diner auf der Kingston Avenue gehen und es in einer Stunde noch einmal versuchen –, als sich jemand meldete.
    »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«, fragte eine Stimme, die er kannte.
    »Ich hab eingesehen,

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