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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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er sollte anders sein, damit er operieren konnte, ohne dass irgendwer ihn mit mir oder mich mit ihm verwechselte.«
    »Was konnte Lincoln Dittmann, was Sie nicht konnten?«
    »Erst einmal war er ein ausgezeichneter Schütze, um Klassen besser als ich. Er ließ sich jede Menge Zeit, um ganz sicher zu sein, immer nur ein Schuss pro Ziel. Er nahm die eine oder andere Korrektur an den Einstellungen für Wind und Entfernung vor und drückte dann ganz langsam ab (anstatt den Abzug nach hinten zu reißen). Ich bin viel zu aufgedreht für einen kaltblütigen Todesschuss, es sei denn, ich werde von so Typen wie Lincoln angespornt. Die paar Male in meinem Leben, die ich auf einen Menschen gezielt habe, war mein Mund wie ausgetrocknet, der Puls hämmerte mir in den Schläfen, und ich musste den Abzugsfinger zwingen, nicht zu zittern. Wenn ein fanatischer Scharfschütze wie Lincoln auf ein menschliches Ziel schoss, spürte er lediglich den Rückstoß des Gewehrs. Was noch? Ich war insgesamt erfahrener – ich konnte mit einer Menschenmenge verschmelzen, auch wenn gar keine da war, sagte man. Lincoln dagegen fiel in einer Menschenmenge auf wie ein bunter Hund. Er war offensichtlich kopflastiger als ich oder als meine andere Legende. Er konnte besser Schach spielen, aber nicht weil er klüger war als ich. Ich war einfach zu ungeduldig, zu unruhig, um mir auszurechnen, welche Folgen ein bestimmter Zug haben könnte, oder gar acht oder zehn Züge vorauszudenken. Lincoln dagegen war mit einer unglaublichen Geduld gesegnet. Wenn eine Person beschattet werden musste, war Lincoln genau der Richtige für den Job. Und wir hatten eine ganz andere Art, an die Dinge ranzugehen.«
    »Inwiefern?«
    »Martin Odum ist im Grunde ein nervöser Typ – an manchen Tagen zuckt er zusammen, wenn er nur seinen eigenen Schatten sieht. Er hat Angst, irgendwo hinzugehen, wo er nie zuvor war, er ist vorsichtig, wenn er sich mit jemandem trifft, den er noch nicht kennt. Er lässt andere – vor allem Frauen – auf sich zu kommen. Er hat Verlangen nach Sex, aber er kann auch gut drauf verzichten. Wenn er mit einer Frau schläft, geht er ganz behutsam vor. Er bemüht sich sehr, der Frau Lust zu verschaffen, bevor er an sich denkt.«
    »Und Dittmann?«
    »Lincoln brachte nichts aus der Fassung – weder sein eigener Schatten noch unbekannte Orte, noch Leute, die er nicht kannte. Das heißt nicht, dass er furchtlos war, nein, er war eher süchtig nach Furcht, brauchte seine tägliche Dosis.«
    »Was Sie da beschreiben, klingt ganz nach einer gespaltenen Persönlichkeit.«
    »Das sehen Sie falsch. Es geht nicht darum, eine Persönlichkeit zu spalten. Es geht darum, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten zu erschaffen, die … Entschuldigen Sie, aber warum machen Sie sich Notizen, wo das Gespräch doch aufgenommen wird?«
    »Das Gespräch fängt an, mich zu faszinieren, Mr. Odum. Ich notiere mir bloß ein paar erste Eindrücke. Gab es noch andere Unterschiede zwischen Dittmann und Odum, zwischen Dittmann und Ihnen?«
    »Eine funktionierende Legende ließ sich nicht über Nacht erschaffen. Es kostete viel Zeit und Mühe. Die Einzelheiten wurden mit Hilfe eines Expertenteams erarbeitet. Odum raucht Beedies, Dittmann rauchte Schimmelpennincks, wenn er welche kriegen konnte, wenn nicht, irgendwelche dünnen Zigarren. Odum isst kein Fleisch, Dittmann ließ sich gern mal ein gutes Steak schmecken. Odum ist Steinbock, Dittmann kannte sein Sternzeichen nicht mal, und es hätte ihn auch nicht die Bohne interessiert. Odum wäscht und rasiert sich jeden Tag, benutzt aber kein Aftershave. Dittmann wusch sich, wenn er konnte, und hat sich förmlich mit Duftwässern übergossen. Odum ist Einzelgänger – die paar Leute, die ihn kennen, witzeln, dass ihm die Gesellschaft von Bienen lieber ist als die von Menschen, und darin steckt ein Körnchen Wahrheit. Dittmann war gesellig. Anders als Odum war er ein guter Tänzer, er ging gern in Nachtclubs, er konnte große Mengen billigen Fusel und Bier trinken, ohne betrunken zu werden. Er hat Dope geraucht, hat Kreuzworträtsel mit Kugelschreiber gelöst, Pachisi gespielt und Go. In Sachen Frauen war er ein unverbesserlicher Romantiker. Er hatte eine Schwäche für Frauen –«, Martin erinnerte sich an eine Mission, die Lincoln in eine Stadt in Paraguay geführt hatte –, »die Angst vor der Dunkelheit hatten, Angst vor Männern, die den Gürtel abnahmen, bevor sie die Hose auszogen, Angst davor, das Leben auf der Erde könnte vor

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