Die kalte Legende
dem nächsten Sonnenaufgang zu Ende sein, Angst davor, es könnte ewig währen.«
»Und Sie –«
»Ich rauche kein Dope. Ich spiele keine Brettspiele. Ich löse keine Kreuzworträtsel, nicht mal mit Bleistift.«
»Dann sind Odum und Dittmann also Antipoden?«
»Lincoln Dittmann würde wissen, was Antipoden bedeutet. Und in einem Winkel eines meiner Gehirnlappen habe ich Zugriff zu dem, was er weiß.«
»Wie gestaltet sich dieser Zugriff? «
»Sie werden es nicht glauben.«
»Lassen wir’s drauf ankommen.«
Martin sagte sehr leise: »Manchmal höre ich, wie seine Stimme mir was ins Ohr flüstert. Deshalb hab ich vorhin Walter Whitman zitieren können.«
»Lincoln Dittmann hat Ihnen die Zeilen zugeflüstert?«
»Mm-hm. Und manchmal weiß ich einfach, was er tun oder sagen würde, wenn er an meiner Stelle wäre.«
»Verstehe.«
»Was verstehen Sie?«
»Ich verstehe, warum Ihr Arbeitgeber Sie zu uns geschickt hat. Hm. Etwas verwirrt mich da ein wenig. Sie sprechen über Lincoln Dittmann in der Vergangenheit, als würde es ihn nicht mehr geben.«
»Lincoln ist so real wie ich.«
»So wie Sie über Martin Odum reden, hört es sich an, als wäre er auch eine Legende. Ist er das?«
Als Martin nicht antwortete, wiederholte sie die Frage. »Ist Martin Odum auch eine von Ihren erfundenen Identitäten, Mr. Odum?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Soll das heißen, dass Sie es tatsächlich nicht wissen?«
»Ich dachte, Sie sollen mir helfen, genau das herauszufinden. Eine der Legenden muss real sein. Fragt sich nur, welche.«
»Na, das wird ja interessanter, als ich dachte. Sie haben eine sehr originelle Form von MPS.«
»Was zum Kuckuck ist denn MPS?«
»Multiple Persönlichkeitsstörung.«
»Ist das tödlich? Wieso schmunzeln Sie?«
»Im Gegenteil, Mr. Odum. Eine Multiple Persönlichkeitsstörung ist eher funktional. Es ermöglicht dem Patienten zu überleben.«
»Was zu überleben?«
»Genau das wollen wir gemeinsam herausfinden. Ich vermute, dass ihnen irgendwann im Laufe Ihres Lebens irgendetwas zugestoßen ist. In der überwältigenden Mehrheit aller Fälle liegt das traumatische Ereignis in der Kindheit – vor allem sexueller Missbrauch, aber nicht nur. Ich hatte mal einen Fall, wo ein Patient traumatisiert wurde, weil er mit Streichhölzern gespielt und einen Brand verursacht hat, bei dem seine kleine Schwester ums Leben kam. Das Trauma hat im Gedächtnis des Patienten sozusagen einen Kurzschluss ausgelöst. Die Folge war, dass er sieben unterschiedliche Persönlichkeiten entwickelte, jede einzelne mit ganz eigenen Emotionen und Erinnerungen, sogar Fähigkeiten. Wenn er in Stress geriet, wechselte er von einer zur anderen. Keine dieser sieben Teilpersönlichkeiten – das, was Sie Legenden nennen würden – konnte sich an die ursprüngliche Kindheitspersönlichkeit oder an das damit verbunden Trauma erinnern. Sie sehen also, das Wechseln zwischen Persönlichkeiten – was übrigens fast immer von Kopfschmerzen begleitet wird – ist eine Überlebenstechnik. Der Patient hat auf diese Weise eine Erinnerungssperre errichtet, sich vor einem ungemein beängstigenden Kindheitserlebnis geschützt, und in diesem Sinne wird MPS als funktional betrachtet. Sie ermöglicht es, sein Leben in den Griff zu bekommen.«
»Oder seine Leben.«
»Sehr gut, Mr. Odum. Oder seine Leben, ja. Mein Instinkt sagt mir, dass Sie nicht so ohne weiteres in die einschlägige Fachliteratur passen, da Sie Ihre Teilpersönlichkeiten aus einsatztechnischer Notwendigkeit entwickelt haben, nicht aus psychologischer. Als Ihre Psyche es notwendig fand, hinter einer Erinnerungssperre zu verschwinden, hatten Sie bereits eine Reihe von fertigen Persönlichkeiten parat, in die Sie nur zu schlüpfen brauchten. In diesem Sinne passen Sie durchaus in das Erscheinungsbild der Multiplen Persönlichkeit.«
»Wie unterschiedlich waren die sieben Persönlichkeiten Ihres Patienten?«
»Wie bei der Mehrzahl von MPS-Fällen gab es deutliche Unterschiede in allen möglichen Bereichen: Gewohnheiten, Begabungen, Interessen, Wertvorstellungen, Kleidungsstil, Eigenarten, Körpersprache, Ausdrucksweise. Sogar beim Sex. Die Teilpersönlichkeiten hatten verschiedene Namen, und einige von ihnen waren sogar unterschiedlich alt. Eine konnte überhaupt nicht verbal kommunizieren, während eine andere eine Sprache sprach – es war Jiddisch –, die die anderen nicht verstanden.«
»Wie ist das denn möglich, dass eine Persönlichkeit eine Sprache
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