Die kalte Legende
fügte einer seiner Kollegen hinzu.
»Gemäß den Scheidungsbedingungen«, fuhr der Rabbi fort, »hinterlegen Sie bei diesem Rabbinatsgericht eine Million Dollar in Inhaberaktien mit der Absicht, dass die genannte Summe, abzüglich einer großzügigen Spende von fünfundzwanzigtausend Dollar an ein jüdisches Projekt zur Umsiedlung von Juden nach Israel, an Ihre Frau Ya’ara Ugor-Shilow überwiesen wird.«
Samat schielte zu Martin hinüber und der nickte unmerklich.
»Einverstanden, ich bin mit allem einverstanden«, sagte Samat hastig.
»Wenn das so ist«, sagte der Rabbi, »werden wir nun den Scheidebrief aufsetzen, den Sie dann noch unterschreiben müssen. Das Dokument wird zusammen mit 975000 Dollar in Inhaberaktien per Federal Express an Rabbi Ben Zion in Qiryat Arba geschickt.
Ya’ara wird dann dort vor ein Rabbinatsgericht gerufen, um den get zu unterschreiben. Erst dann sind Sie und Ihre Frau offiziell geschieden.«
»Wie lange brauchen Sie für den Brief?«, fragte Martin von der Tür aus.
»Zirka fünfundvierzig Minuten«, sagte Shulman. »Möchten Sie vielleicht in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken?«
Später warteten Martin und Samat vor der Synagoge, während Stella den Packard holte. Martin stieg mit Samat hinten ein. »Wohin geht’s jetzt?«, fragte Stella.
»Nach Little Odessa.«
»Was wollen wir denn im russischen Viertel von Brooklyn?«
»Das wirst du schon sehen«, sagte Martin.
Stella zuckte die Achseln. »Wie du meinst«, sagte sie. »Bisher hast du ja immer gewusst, was du tust.«
Sie lenkte den großen Packard durch den dichten Verkehr auf dem Ocean Parkway, vorbei an gesichtslosen, schmutzig grauen Mietshäusern, auf deren Dächern bunte Wäsche an der Leine flatterte. Martin hielt die Tula-Tokarev in der einen Hand, während er mit der anderen Samats rechtes Handgelenk umfasst hielt.
»An der Brighton Beach Avenue links«, wies Martin sie an. »Das ist die nächste Ampel.«
»Du kennst dich hier aus«, sagte Samat.
»Ich hatte mal zwei Kunden in Little Odessa, bevor ich ein berühmter internationaler Privatdetektiv wurde, der verschwundene Ehegatten aufspürt«, sagte Martin. »Bei dem einen Auftrag ging es um einen gekidnappten Rottweiler. Bei dem anderen um ein von Tschetschenen betriebenes Krematorium.«
Samat verzog das Gesicht. »Ich begreife nicht, warum die USA Tschetschenen überhaupt ins Land lässt.«
Stella fragte Samat: »Warst du schon mal in Tschetschenien?«
Samat sagte: »Ich hab auch so schon genug Tschetschenen kennen gelernt. Moskau wimmelt nur so von Tschetschenen.«
Martin konnte sich nicht bremsen. »Da war zum Beispiel einer, der wurde der Osmane genannt.«
Das Seetanggrün in Samats Augen verdunkelte sich, als würden sich Gewitterwolken darin spiegeln. »Was weißt du über den Osmanen?«
»Das, was alle wissen«, sagte Martin arglos. »Dass man ihn und seine Freundin eines schönen Morgens mit den Köpfen nach unten aufgeknüpft an einem Laternenpfahl gefunden hat, an der Kremlmauer.«
»Der Osmane war kein Unschuldiger.«
»Er soll erwischt worden sein, als er neunzig gefahren ist, obwohl nur achtzig erlaubt waren.«
Samat merkte, dass er verschaukelt wurde. »In Moskau zu schnell zu fahren kann gefährlich für die Gesundheit sein«, stimmte er zu.
»Genau wie Abfall auf die Straße werfen.«
»Jetzt links in die 5th Street. Da vorne kannst du parken.«
»Vor dem Krematorium?«, fragte Stella, als sie in die Straße bog.
»Ja, genau dort.«
»Wen treffen wir denn da?«, fragte Samat beklommen, während Stella am Bordstein hielt und den Motor abstellte.
»Es ist kurz vor acht«, sagte Martin. »Wir warten hier, bis es ganz dunkel ist und die Straßen leer sind.«
»Ich mach mal für ein paar Minuten die Augen zu«, verkündete Stella.
Aus Stellas kurzem Nickerchen wurde ein Schläfchen von einer Stunde und zehn Minuten. Nach der langen Fahrerei und vor allem der Anspannung war sie hundemüde. Auch Samat döste ein, zumindest sah es so aus, denn das Kinn sank ihm auf die Brust und seine geschlossenen Augenlider zuckten. Martin hielt die Pistole weiter fest in der Hand. Seltsamerweise war er kein bisschen müde, obwohl er in der Nacht auf Samats Couch nur unruhig geschlafen hatte (Samat war in einer Kammer eingesperrt gewesen und hatte ihn alle paar Stunden geweckt, weil er aufs Klo musste).
Dunkelheit legte sich über Little Odessa, und allmählich kehrten die Russen in ihre Wohnungen zurück. Auf beiden Seiten der 5th
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