Die kalte Legende
andere Knie.«
»Beim Leben meiner Mutter, ich schwöre es. Jetzt bring mich zu einem Arzt.«
Martin stieg aus dem Packard und ging auf die andere Seite des Wagens, dann zog er Samat an den Handgelenken von der Rückbank quer über den Gehweg. Vor dem Krematorium stieß er ihn zu Boden, sodass er mit dem Rücken gegen die Tür lehnte. Dann drückte Martin mehrere Sekunden lang den Klingelknopf. Zwei Stockwerke über seinem Kopf tauchte eine junge Frau an dem offenen Fenster auf.
»Wir haben geschlossen«, rief sie nach unten.
»Nicht mehr lange«, rief Martin nach oben. »Schon mal von einem Tschetschenen mit dem Spitznamen ›der Osmane‹ gehört?«
Die Frau am Fenster verschwand. Einen Augenblick später wurde die Nadel von der Schallplatte gehoben und die Musik verstummte. Zwei Männer steckten die Köpfe zum Fenster heraus. »Was ist mit dem Osmanen?«, brüllte der ältere von ihnen, der einen prächtigen Schnurrbart hatte.
»Der Armenier von der slawischen Allianz, der ihn und seine Freundin am Kreml gelyncht hat, liegt hier vor eurer Tür. Er heißt Samat Ugor-Shilow. Eure tschetschenischen Freunde suchen auf der ganzen Welt nach ihm. Ihr braucht euch nicht zu beeilen – er hat ein zertrümmertes Knie und kommt nicht weit.«
Samat wimmerte. »Um Gottes willen, du kannst mich doch nicht hier zurücklassen! Denk doch an meine Mutter.«
Martin konnte die Aufregung spüren, die oben in dem Zimmer losbrach. Schon polterten Schritte die Treppe herunter. »Lass den Motor an«, rief er Stella zu. Schmerzen jagten ihm durch das lahme Bein, als er um den Wagen herum zur Beifahrertür humpelte und einstieg. »Gib Gas«, sagte er. »Aber überfahr keine roten Ampeln.«
Stella biss sich auf die Lippen, damit sie aufhörten zu zittern, und fuhr die leere Straße hinunter. Martin drehte sich um und sah, wie die Tschetschenen Samat ins Krematorium schleiften. Stella hatte es offenbar im Rückspiegel beobachtet. »Ach, Martin«, sagte sie, »was machen die jetzt mit ihm?«
»Ich schätze, sie reißen ihm mit einer Zange die Goldzähne raus, stecken ihn dann in den billigsten Sarg, den sie haben, nageln den Deckel zu und äschern ihn bei lebendigem Leib ein.« Er berührte ihre Hand am Lenkrad. »Samat hat eine Blutspur hinterlassen – der Osmane und seine Freundin, dein Vater, Minh, die in Käfigen eingesperrten Plünderer auf der Insel im Aralsee, die Samat als Versuchskaninchen für seine Biowaffen benutzt hat, welche er schließlich an Saddam Hussein geliefert hat. Die Liste ist lang.«
Martin dirigierte Stella wieder ins Herz von Brooklyn. Auf dem Eastern Parkway ließ er sie anhalten. Er holte eine Papiertüte aus dem Kofferraum, nahm Stellas Arm und zog sie zu einer Bank in der Nähe. »In der Tüte sind eine Million Dollar in Inhaberaktien«, sagte Martin und gab sie ihr. »Versteck dich heute Nacht in einem Motel auf der Jersey-Seite des Holland-Tunnels. Fahr morgen nach Philadelphia und geh in die größte Bank, die du da findest. Lös die Aktien ein und eröffne ein Konto auf deinen Namen. Dann fährst du nach Jonestown in Pennsylvania. Nicht Johnstown. Jonestown. Dort suchst du ein kleines Haus mit weißen Fensterläden und einer umlaufenden Veranda irgendwo am Stadtrand mit Blick auf die Maisfelder. Und einen Garten muss es haben, wo wir Hühner halten können. Nicht weit davon entfernt, hinter der Anhöhe, ist ein Kloster – man sollte das Glockenspiel vom Haus aus hören können.«
»Woher weißt du das mit Jonestown und dem Kloster?«
»Lincoln Dittmann und ich kommen beide aus Jonestown. Das Komische ist, dass wir uns damals nicht kannten. Meine Familie ist nach Brooklyn gezogen, als ich acht war, aber Lincoln ist in Pennsylvania aufgewachsen. Ich hätte Jonestown fast vergessen. Er hat mich dran erinnert.«
»Wer ist Lincoln Dittmann?«
»Jemand, den ich in einer anderen Inkarnation kannte.«
»Was mache ich, wenn ich das Haus gefunden habe?«
»Du kaufst es.«
»Warum kommst du nicht mit?«
»Ich muss noch was erledigen. Wenn ich hier fertig bin, komme ich nach Jonestown.«
»Wie willst du mich denn finden?«
»Jonestown ist ein kleiner Ort. Ich frage einfach nach der tollen Frau mit dem leichten Silberblick und dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen.«
Stella genoss die kühle Abendluft. Die vorbeigleitenden Autoscheinwerfer gaben ihr das Gefühl, dass sie und Martin in einer unaufhörlich bewegten Welt auf einer Insel der Ruhe gelandet waren.
»Erinnerst du dich wirklich daran,
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