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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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spricht, die von einer anderen seiner Persönlichkeiten nicht verstanden wird?«
    »Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Legenden, um Ihren Begriff zu verwenden, im Gehirn voneinander getrennt sein können.«
    »Wussten die sieben Persönlichkeiten von den jeweils anderen?«
    »Manche ja, manche nicht. Das variiert von Fall zu Fall. Meistens wissen einige Persönlichkeiten von der Existenz einiger anderer Persönlichkeiten – die sind für sie so was wie Bekannte, die man eine Weile nicht gesehen hat. Und es gibt die so genannte Primärpersönlichkeit – das wäre in Ihrem Fall Martin Odum –, die dient als Informationsquelle über alle anderen Persönlichkeiten außer der Gastgeberpersönlichkeit, die das Trauma erfahren hat. Das würde erklären, dass Sie, wie Sie vorhin sagten, das Gefühl haben, Sie hätten in einem Winkel Ihres Gehirns Zugriff auf Spezialwissen oder auf Talente einer anderen Teilpersönlichkeit oder, wie Sie es formulieren würden, einer anderen Legende.«
    »Ich hab eine Frage, Dr. Treffler.«
    »Hören Sie, da wir ja eine Zeitlang zusammenarbeiten werden, wie wär’s, wenn wir uns mit Vornamen anreden. Nennen Sie mich Bernice, und ich sage Martin zu Ihnen, einverstanden?«
    »Klar. Bernice.«
    »Wie lautet Ihre Frage, Martin?«
    »Ich erkenne drei Identitäten: Martin Odum, Lincoln Dittmann und eine, die ich noch nicht erwähnt habe, einen Iren namens Dante Pippen. Gerade heute würde Dante in Dublin durch die Pubs ziehen und sich bis zum Sonnenuntergang betrinken.«
    »Was ist denn heute?«
    »Bloomsday, Herrgott nochmal. Die gesamte Handlung von Ulysses spielt heute vor neunzig Jahren – am 16. Juni 1904.« Martin schloss die Augen und legte den Kopf schief. » Er betrat Dairy Byrnes Wirtschaft. Anständiges Lokal. Er schwatzt nicht. Gibt hin und wieder ein Glas aus. Obendrein war es ein Dienstag, wie heute. In Irland lässt man so ein Zusammentreffen nicht verstreichen, ohne, wie Dante gern sagte, in einem Tabernakel mit Alkoholausschank zu beten.«
    »Hm.«
    »Meine Frage ist nun: Ist eine meiner drei Legenden echt? Oder lauert irgendwo in mir eine vierte Persönlichkeit, die mein ursprüngliches Ich ist?«
    »Diese Frage kann ich noch nicht beantworten. Beides könnte zutreffen. Es könnte eine vierte Legende geben, sogar eine fünfte. Das wissen wir erst, wenn wir die Erinnerungssperren Stein für Stein einreißen, um zu der Identität vorzudringen, die sich als das ursprüngliche Ich erkennt.«
    »Damit das passiert, muss das Kindheitstrauma an die Oberfläche kommen?«
    »Ist das eine Frage oder eine Feststellung?«
    »Eine Frage.«
    »Ich freue mich auf die Arbeit mit Ihnen, Martin. Sie haben eine rasche Auffassungsgabe. Sie haben keine Angst, jedenfalls nicht so viel, dass Sie sich vor diesem Abenteuer drücken würden. Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Um zu Ihrem ursprünglichen Ich vorzudringen, werden Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Schmerz erleiden. Wie kommen Sie mit Schmerz klar?«
    »Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Martin Odum, Lincoln Dittmann und Dante Pippen kommen vielleicht ganz unterschiedlich damit klar.«
    »Ich würde vorschlagen, mit dieser erfreulichen Erkenntnis machen wir für heute Schluss.«
    »Wie Sie meinen.« Dann fügte Martin hinzu: »Jetzt hätte ich doch gern ein Aspirin.«

1997: MARTIN ODUM ENTDECKT, DASS NICHT VIEL HEILIG IST
    Von Lower Manhattan bis Crown Heights sind es gerade mal vier Meilen Luftlinie über den Fluss, doch es ist eine andere Welt. Seit dort Anfang der neunziger Jahre Rassenkrawalle auf den Straßen wüteten, kam dieser Teil von Brooklyn in den Genuss einer gewissen Extraterritorialität. Die Polizei fuhr tagsüber in der Gegend Streife, doch nur bei besonders krassen Delikten verließen die Beamten die relative Sicherheit ihrer Fahrzeuge. Je nachdem, auf welcher Straße oder sogar auf welchem Bürgersteig man sich befand, regierte eine andere Mafia. Auf den Straßen südlich des Eastern Parkway abseits der Nostrand Avenue lasen die Lubawitscher, ernste Männer in schwarzen Anzügen und schwarzen Hüten, fleißig die Thora und befolgten ihre 613 Gebote, während sie auf den Messias warteten, der jeden Tag auftauchen sollte, allerspätestens am Wochenende. Weil das Ende der Welt nahe war, waren die Lubawitscher begeisterte Kreditnehmer, je länger die Laufzeit, desto besser, taten sich allerdings schwer, irgendetwas zu kaufen, das sich nicht gleich konsumieren ließ, und mieden Kämpfe, die

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