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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Rätsel. Yin-shi führte ein Leben, das ihr langweilig vorkam. Drei- oder viermal die Woche bestellte er das gleiche Gericht, kümmerte sich um seine Bienen auf dem Dach, schlief mit ihr, wenn sie bei ihm auftauchte. Zur Abwechslung brach er hin und wieder einmal in ein Hotelzimmer ein, um einen Ehemann beim Seitensprung zu fotografieren. Doch wenn er ihr erzählte, womit er sein Geld verdiente, hörte es sich selbst aus seinem Munde langweilig an. Als sie einmal das Thema Langeweile angeschnitten hatte, hatte er zu ihrem Erstaunen zugegeben, dass das genau nach seinem Geschmack sei. Es sei seine feste Absicht, so versicherte er ihr, sich den Rest seines Lebens zu Tode zu langweilen.
    Minh hatte gedacht, das wäre nur so ein Spruch gewesen, der sich schlau anhören sollte. Erst später dämmerte ihr, dass er es genauso gemeint hatte. Sich zu Tode langweilen war so etwas wie Selbstmord in Zeitlupe.
    Minh ging ins hintere Zimmer, zog die Laken und die Decke auf der Pritsche glatt, leerte das Wasser aus der Plastikschüssel, die auf dem Boden stand, schloss die Kühlschranktür, räumte das Geschirr weg, das Martin endlich gespült hatte. Sie nahm Martins Overall, krempelte die Armelaufschläge hoch, schlüpfte hinein und zog vorne den Reißverschluss zu. Dann setzte sie den Schutzhelm mit dem Moskitonetz auf und betrachtete sich in dem gesprungenen Spiegel über dem Waschbecken im Bad. Das Outfit war nicht gerade der letzte Schrei. Sie holte Martins Rauchbläser unter dem Waschbecken hervor und stieg die Treppe hinauf aufs Dach. Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ die letzten Regentropfen trocknen, die in der Nacht zuvor gefallen waren. Dunst stieg von flachen Pfützen auf, als Minh zu den Bienenstöcken ging. Martin hatte die Stöcke samt Ausrüstung und selbst die ersten Königinnen aus einem Katalog gekauft, als er sich in den Kopf gesetzt hatte, Bienen zu züchten. Am Anfang hatte er sich in das Handbuch vertieft und sich schlau gemacht. Dann hatte er einen Stuhl aufs Dach gestellt und stundenlang dem Treiben der Bienen zugeschaut, um herauszufinden, ob die Schwärme beim Fliegen einem Muster folgten, ob ihre vermeintliche Verrücktheit Methode hatte. Nie zuvor hatte Minh erlebt, dass er irgendwas mit einer derartigen Intensität tat. Zu Anfang hatte er Handschuhe getragen, wenn er die Wabenrahmen begutachtete oder reinigte, doch als Minh ihm von dem chinesischen Volksglauben erzählte, Bienenstiche würden den Sexualtrieb verstärken, erledigte er alles mit ungeschützten Händen. Allerdings hatten die unvermeidlichen Stiche auch nichts geändert – es war stets Minh, die die Initiative übernahm, die Martin ins hintere Zimmer auf die Pritsche zog und erst sich, dann ihn auszog. Er war ein behutsamer Liebhaber, als sei er zerbrechlich und nicht sie (so wurde ihr schließlich klar), als hätte er Angst, es könnten Emotionen an die Oberfläche kommen, die er nicht mehr unter Kontrolle hätte.
    Minh ging vor dem ersten Bienenstock in die Hocke, um den Rauchbläser vorzubereiten, und während sie noch darüber nachsann, dass sie sich, wenn sie mit Martin schlief, immer wie eine Schlafwandlerin bei einem körperlich befriedigenden, aber emotional frustrierenden One-Night-Stand fühlte, klatschte plötzlich ein Geschoss in die Rahmen. Für einen Augenblick trat absolute Stille ein, als wären die zwanzigtausend Bewohner des Bienenstocks in einen katatonischen Schockzustand gefallen. Dann brach ein zorniger, gelblich brauner, fußballgroßer Schwarm mit solcher Wucht aus dem Stock hervor, dass er Minh nach hinten riss. Der Helm samt Schutznetz fiel ihr vom Kopf, und die Bienen stürzten sich auf ihre Nasenlöcher und Augen, stachen mit unbändiger Rachgier zu. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug wild nach den Schichten von Bienen auf ihrer Haut, zerquetschte sie zu Hunderten, bis ihre Knöchel mit einer klebrigen Masse bedeckt waren. Über ihr war keine Sonne mehr, nur ein dicker Teppich tobender Insekten, die sich bei der Attacke auf den Zerstörer ihres Stocks gegenseitig den Platz streitig machten.
    Minhs Gesicht und die Lider schwollen an, sie sank nach hinten auf die heiße Dachpappe und schlug schwach nach den Bienen, so wie Tsou die Fliege auf der Bar verscheucht hatte. Als der Schmerz nachließ und allmählich Taubheit an seine Stelle trat, hörte sie eine Stimme, die stark nach ihrer eigenen klang und Martin erklärte, dass du wirklich keine Handschuhe tragen solltest. Klar gibt’s dafür einen

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