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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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finde, zahlen Sie nur meine Spesen. Nicht mehr.«
    »Bei Ihnen im Billardsaal wollten Sie den Fall nicht annehmen, weil eine Nadel im Heuhaufen leichter zu finden sei«, sagte Stella. »Wo in aller Welt fangen Sie mit der Suche an?«
    »Jeder ist irgendwo«, erwiderte Martin. »Wir fangen in Israel an.«
    Verdutzt sagte Stella: »Wir?«
    Martin nickte. »Erstens wegen Ihrer Schwester – sie wird mir mehr vertrauen, wenn Sie dabei sind. Zweitens wegen Samat. Jemand auf der Flucht kann sein Äußeres mühelos verändern – Haarfarbe und -länge zum Beispiel. Er könnte sich auch eine Kefije um den Kopf binden und würde als Araber durchgehen. Ich möchte jemanden dabeihaben, der ihn in einer Menschenmenge allein an seinen seetanggrünen Augen erkennen könnte.«
    »Da komme ja wohl nur ich in Frage«, pflichtete Stella bei.

1997: MINH SCHLAFWANDELT BEI ONE-NIGHT-STANDS
    In einer weiten Seidenhose und einer hochgeschlossenen Seidenbluse mit einem aufgestickten Drachen auf dem Rücken räumte Minh gerade den letzten Tisch nach dem Mittagsansturm ab, als Tsou Xing den Kopf zur Küchentür herausstreckte und sie bat, nach Martins Bienenstöcken zu sehen. Er würde es selbst tun, sagte er, aber er erwartete eine Lieferung Formosan-Bier und wollte die Kartons zählen, bevor sie in den Keller gebracht wurden, um ja nicht übers Ohr gehauen zu werden. Klar, sagte Minh. Kein Problem. Sie nahm Martins Schlüssel aus der Kasse und ging zum Ausgang, froh, ein paar Minuten für sich allein zu haben. Sie fragte sich, ob Tsou ahnte, dass sie mit Martin geschlafen hatte. Sie meinte, einen anzüglichen Ausdruck in seinen alten Augen entdeckt zu haben, als Tsou Anfang der Woche auf ihren Nachbarn von oben zu sprechen gekommen war. Er hatte Martin mit dem chinesischen Wort für Einsiedler bezeichnet. Was glaubst du, wohin yin-shi geht, wenn er geht?, hatte Tsou gefragt. Minh hatte bloß mit ihren muskulösen Schultern gezuckt. Es gehört nicht zu meinem Job, mich über das Privatleben der Gäste auf dem Laufenden zu halten, hatte sie gereizt erwidert. Sei nicht so hochnäsig, hatte Tsou gesagt, während er mit seiner einzigen Hand eine Fliege von der Bar verscheuchte. Ist doch kein Verbrechen zu denken, du wüsstest es vielleicht, oder? Und dabei hatte er so durchtrieben gelächelt, dass die zahlreichen Goldzähne in seinem Mund blitzten. Na, ich weiß es jedenfalls nicht, und es interessiert mich auch nicht die Bohne, hatte Minh beteuert. Dann hatte sie sich auf dem Absatz umgedreht und war davonstolziert, damit Tsou es ein für alle Male kapierte: Es gefiel ihr nicht, wenn er seine Nase in ihr Liebesleben steckte, ob sie nun eins hatte oder nicht.
    Jetzt rieb Minh mit dem Ärmel über Martins Namenszug an der Haustür, um die Regenflecken abzuwischen, und stieg dann zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf zum Billardsaal. In Wahrheit fragte sie sich sehr wohl, wohin Martin verschwunden war und auch, warum er ihr nicht ebenso wie Tsou eine Nachricht hinterlassen hatte. Wahrscheinlich war Martin zu schüchtern, es wäre ihm schrecklich peinlich, wenn er glaubte, Tsou hätte Wind von ihrer Beziehung bekommen, vorausgesetzt, man könnte ihre sehr seltenen gemeinsamen Abende überhaupt Beziehung nennen. Sie schlenderte durch den Billardsaal, fuhr mit den Fingern über die Bürgerkriegswaffe, die Akten auf dem Schreibtisch und die ungeöffneten Kartons, die Gott weiß was enthielten. Gleich nach seinem Einzug hatte sie ihn gefragt, ob sie ihm beim Auspacken helfen solle. Er hatte bloß gegen einen der Kartons getreten und gesagt, die brauchte er nicht auszupacken, er wisse ja, was drin sei. Die Antwort fand sie typisch für ihn.
    Wenn Minh darüber nachdachte, was häufiger vorkam, als ihr selbst lieb war, machte es sie wütend, dass sie einfach nicht genau wusste, wo sie bei yin-shi dran war. Er schien sich zwar immer zu freuen, sie zu sehen, aber er suchte auch nicht gerade den Kontakt zu ihr. Minh war in Chinatown aufgewachsen, einem brodelnden Hexenkessel voller Menschen, die vor irgendwas geflohen waren. Daher waren Flüchtlinge für sie nichts Ungewöhnliches. Sie erkannte sie daran, dass diese sogar in einer Menschenmenge allein wirkten. Sie selbst war illegal im Land. Sie war aus Taiwan geflohen, und Minh war nicht einmal ihr richtiger Name, was sie Martin bislang verschwiegen hatte, um ihn nicht zu schockieren. Manchmal hatte sie das sonderbare Gefühl, dass auch Martin ein Flüchtling war – doch wovor er floh, war ihr ein

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