Die kalte Legende
davon, die sich zu dieser Jahreszeit rasch über das Bekaa-Tal senkte. Der Imam holte die Schnur mit den Jadeperlen hervor und ließ sie durch seine dicklichen Finger gleiten. Die Geste hatte etwas Therapeutisches an sich, dachte Dante. Ihm fiel auf, dass Dr. al-Karims Finger und Lippen bebten. Hatte er vielleicht soeben zum ersten Mal einen Menschen mit eigenen Händen getötet?
»Wenn eine Muslimin sich vom Glauben abwendet«, murmelte der Imam – er schien mit sich selbst zu sprechen –, »ist das eine Todsünde, die mit Hinrichtung bestraft wird.«
Gegen Mitternacht bliesen die kalten Böen, die fast jede Nacht von den Golanhöhen heranwehten, so kräftig, dass sie das Geräusch der Hubschrauber übertönten, die wie abgeschossene Vögel aus großer Höhe herabfielen und an strategischen Punkten rings um das Hisbollah-Lager landeten. Die Wachen der Straßensperre an der Biegung, wo die Straße von Beirut bergauf ins Dorf führte, wurden überwältigt, ohne dass ein Schuss fiel. Die Fedajin sahen, dass die Männer, die da auf sie zukamen, die Kefije trugen, und machten den verhängnisvollen Fehler, sie für Araber zu halten.
» Assalamu aleikum «rief einer der Männer mit den Kefije, und ein Wachposten an der Straßensperre antwortete: » Wa aleikum salam. «
Es waren seine letzten Worte. Die Fedajin im Bunker oben auf dem Hügel feuerten in die Dunkelheit, als sie Gestalten den Hang heraufhasten sahen. Die mit Nachtsichtgeräten ausgestatteten Angreifer erwiderten das Feuer erst, als sie nahe genug waren, um Blendgranaten über die Sandsäcke vor dem Bunker werfen zu können. Andere Teams aus den Hubschraubern, die Gesichter mit Kohle geschwärzt, liefen durch das Lager und griffen die beiden flachen Gebäude an, die als Schlafsäle dienten. Die meisten angehenden Bombenattentäter sowie das Personal und die Fedajin, die zu Besuch waren, wurden niedergestreckt, als sie durch Türen und Fenster fliehen wollten. Sprengladungen, die vor dem kleinen Backsteingebäude deponiert wurden, jagten die Hisbollah-Fahne auf dem Dach in die Luft und lösten eine Kette von kleineren Explosionen aus, als die Munitionskisten Feuer fingen.
Dante hockte in seinem Zimmer hinter der Tür und hörte die beiden Wachmänner aufgeregt in ein Walkie-Talkie brüllen. Wahrscheinlich warteten sie auf Anweisungen. Als keine Antwort kam, liefen sie auf das Haus des Imams zu, wo sie von einem der israelischen Trupps, der die schmalen Straßen sicherte, erschossen wurden. Die ersten Verluste für die Angreifer kamen, als sie mit mehreren Männern ins Arbeitszimmer des Imams stürmten. Einer von dessen Leibwächtern kam mit erhobenen Händen auf sie zu und sprengte sich dann selbst in die Luft. Er riss zwei Israelis mit in den Tod und verletzte zwei weitere. Die übrigen Soldaten des Überfallkommandos durchkämmten das Haus, töteten die Leibwächter, das Dienstpersonal und eine der Frauen des Imams mitsamt seinen zwei jugendlichen Söhnen. Dr. al-Karim entdeckten sie oben im Haus in einem Wandschrank, seine zweite Frau und die beiden anderen Kinder kauerten nebenan in einem Badezimmer, das mit goldenen Armaturen ausgestattet war. Der Imam wurde in Handschellen und mit verbundenen Augen durch die Straßen zu einem wartenden Hubschrauber gezerrt.
Sobald die Schießerei nachließ, band sich Dante das weiße Halstuch von Djamillha um und rannte aus dem Haus, um zu dem Brunnen zwischen Dorf und Hisbollah-Lager zu gelangen. Als er um eine Ecke in eine schmale Straße bog, geriet er unversehens in das Kreuzfeuer zwischen einigen Fedajin, die sich im Erdgeschoss der Schule verschanzt hatten, und den Israelis, die hinter einer niedrigen Mauer auf der anderen Straßenseite kauerten. Dante hechtete hinter einen Pick-up, als die Fedajin anfingen, mit Granatwerfern zu schießen. Ein Geschoss explodierte neben dem Pick-up, und Dante spürte ein Stechen im Kreuz, als er von einem heißen Schrapnellsplitter getroffen wurde. Er lag auf der Straße und hatte das Gefühl, dass die Schüsse immer ferner klangen, während er zu dem mattweißen Streifen hinaufstarrte, der sich quer über den Nachthimmel erstreckte, und auf den Schmerz wartete. Schon leicht benommen, konzentrierte er sich so gut es ging auf die Milchstraße, um den Stern zu erkennen, der für die Seele der alawitischen Prostituierten Djamillha stand, als er schließlich kam, der sengende Schmerz, der ihm die Wirbelsäule hochschoss und das Bewusstsein nahm.
Dante erwachte in einem
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