Die kalte Legende
gefahren waren.
Martin schlitzte das Kuvert mit dem Zeigefinger auf und zog ein Blatt Papier heraus, das er entfaltete. »Mm-hm«, brummte er.
»Mm-hm, was?«
»Mein alter Mossad-Freund, bei dem ich zu Hause zum Essen war, schreibt, dass die Magnetbänder mit den Telefonverbindungen von Qiryat Arba tatsächlich gelöscht wurden, genau wie der Rabbi gesagt hat. Aber nicht versehentlich. Die Mossad hat das gemacht, als Gefälligkeit für ihre CIA-Kollegen.«
»Das wird ja immer undurchsichtiger.«
»Wie wir wissen, will die CIA nicht, dass ich Samat finde – das hat mir meine ehemalige Chefin erzählt, als sie mich runter ins Chinarestaurant gerufen hat.« Martin dachte an den explodierenden Honig, der Minh das Leben gekostet hatte, und an die beiden Kugeln, die ein Scharfschütze in Hebron auf ihn abgefeuert hatte. Er führte Stella zu einer Reihe Plastikstühle außer Hörweite der anderen Passagiere. »Wie war es mit deiner Schwester, nachdem ich weg war?«
»Sie wollte mich überreden, in Israel zu bleiben. Aber was soll ich hier?«
»Auch Israel ist ein Dampfkessel. Du könntest deine Brötchen damit verdienen, dass du anti-israelische Witze in Umlauf bringst.«
»Sehr witzig. Apropos, ich kenne noch einen guten. Der Rabbi hat ihn mir erzählt. Frage: Was ist Antisemitismus? Antwort: Juden mehr als nötig zu hassen.«
»Das ist doch nicht witzig«, sagte Martin.
»Das ist ja gerade der Witz«, beteuerte Stella ungehalten, »dass es nicht witzig ist. Aber man soll eben nicht versuchen, jemanden zum Lachen zu bringen, der keinen Humor hat.«
»Mein Freund Dante hatte Humor«, sagte Martin mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen. »Er hat ihn in einem Zimmer über einer Kneipe in Beirut zurückgelassen.«
Stella beschloss, das Thema zu wechseln. »Samats Onkel scheint mir ja ein richtiger russischer Mafioso zu sein.«
»Ich hatte gehofft, er würde mir einen Tipp geben, wo ich mit der Suche nach Samat anfangen soll. Er hat gesagt, wenn er das wüsste, brauchte er mich nicht.«
»Glaubst du, Samat ist wirklich mit dem vielen Geld auf und davon? Was hat sein Onkel mit ihm vor, wenn er ihn erwischt?«
Eine Lautsprecherdurchsage forderte die Passagiere der Maschine nach London auf, an Bord zu gehen. Martin stand auf. »Was er mit ihm vor hat? Ihn zu Tode kitzeln, vermutlich.«
»Jetzt machst du Witze, richtig?« Mit zusammengekniffenen Augen studierte Stella Martins Gesicht. »Verstehe, das war kein Witz.«
Um sie herum nahmen Passagiere ihr Handgepäck und schlenderten zu der Treppe, die zu ihrem Gate führte. »Ich wünschte, ich könnte mit dir fliegen. Ich gewöhne mich langsam an deinen Humor.«
»Hast du nicht gesagt, ich hätte keinen?«
»Genau daran gewöhne ich mich ja.« Sie stand auf und strich ihm mit dem Handrücken über den Ellbogen. »Ich hoffe jedenfalls, du rufst mich aus London an.«
Sein Blick fiel auf das Dreieck blasser Haut auf ihrer Brust. »Ich bewundere deine Hoffnungsfähigkeit.«
Sie befingerte nervös den ersten geschlossenen Knopf an ihrer Bluse. »Vielleicht kann ich dich anstecken.«
»Eher unwahrscheinlich. Ich bin dagegen geimpft.«
»Der Impfschutz lässt mit der Zeit nach.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leicht auf den Mund. »Bis dann, Martin Odum.«
»Mm-hm. Bis dann.«
Crystal Quest kochte vor Wut. »Einen unserer eigenen Leute eliminieren zu müssen, ist schon widerwärtig genug«, schrie sie ihre Untergebenen an, die sich bei ihr im Allerheiligsten versammelt hatten, »aber noch widerwärtiger ist es, die Sache zu vermasseln. Würde mir bitte jemand verraten, wo wir heutzutage unsere Scharfschützen engagieren? An Schießbuden auf Coney Island? Mein Gott, wie erbärmlich.«
»Wir hätten Lincoln Dittmann beauftragen sollen«, warf einer der Neulinge ein. »Der soll ein Superschütze sein.«
Quest neigte den Kopf und blickte den jungen Mann an, als hätte er ihr soeben die Lösung ihres Problems präsentiert. »Wo haben Sie das denn her?«, fragte sie mit heiserer Flüsterstimme.
Der junge Mann spürte, dass er sich auf glattes Eis begeben hatte.
»Aus den Personalakten im Zentralregister. Ich wollte mir einen Überblick über unsere Agenten im aktiven Einsatz … verschaffen.«
Seine Stimme versagte. Er blickte sich auf der Suche nach einem Rettungsring um, doch keiner schien geneigt, ihm einen zuzuwerfen.
Quests Unterkiefer klappte herunter, während ihr Kopf verwundert auf und ab wippte. »Lincoln Dittmann! Auf
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