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Die kalte Nacht des Hasses

Die kalte Nacht des Hasses

Titel: Die kalte Nacht des Hasses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Ladd
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beugte sie sich vor und ging unter den Bänken fast bis zur Mittellinie. Die Leute saßen über ihr und redeten und lachten, und sie konnte ihre Füße sehen, aber keiner von ihnen bemerkte sie. So gefiel es ihr. Sie war gern allein. Sie hasste alle andern.
    Als sie eine dunkle Stelle gefunden hatte, wo sie ihren Rücken an die Wand lehnen konnte, setzte sie sich und zog die Beine an die Brust. Sie legte die Stirn auf die Knie und schluchzte so laut sie wollte, den sie wusste, dass die Geräusche der Menge und die Musik auf der Bühne ihren Schmerz übertönen würden.
    »Was machst du denn hier unten?«
    Das tränennasse Gesicht der Älteren zuckte hoch. Ein Junge hatte sich einen Meter vor ihr hingekauert. Er war ein paar Jahre älter als sie. Sie kannte ihn, weil er auf ihre Schule ging. Ein- oder zweimal im Schuljahr hatte er im Schulbus neben ihr gesessen.
    Sie schniefte und wischte sich schnell mit dem Saum ihres T-Shirts die Tränen weg. »Geht dich nichts an. Warum haust du nicht einfach ab?«
    »Warum weinst du?«
    »Geht dich nichts an, hab ich gesagt.«
    Der Junge hatte eines dieser blöden T-Shirts an. Auf seinem war das Foto von zwei kleinen Mädchen, die aussahen wie Zwillinge, beide mit langen lockigen blonden Haaren. Sie erinnerte sich, dass es seine kleinen Schwestern waren. Ihre Mama meldete sie immer abwechselnd zu den Kinder-Schönheitswettbewerben an, aber beide Mädchen verloren jedes Mal gegen Sissy.
    »Ich wollte mit dir hier unten sitzen. Das ist echt cool.«
    »Nein, geh weg. Ich will alleine sein.«
    »Ich auch. Ich hasse die alle.«
    Jetzt betrachtete die Ältere ihn mit mehr Interesse. Sie sah, wie er näher kam und neben ihr Platz nahm. Als er seinen Kopf an die Wand lehnte, rutschte sie weg von ihm.
    Er sagte: »Du riechst gut.«
    »Nein, tue ich nicht. Dieser Gestank ist eklig. Ich hasse ihn, und ich werde ihn immer hassen.«
    Darüber lachte er und dann fragte er: »Warum sind deine Haare ganz nass? Hat deine Mum den Fön vergessen?«
    »Geht dich nichts an.«
    Einen Moment lang sagte er nichts, sondern starrte sie nur still an, dann sagte er: »Dieses T-Shirt ist bescheuert. Meine Mum besteht darauf.«
    »Ja, das ist es.«
    Er lachte wieder. »Du bist echt lustig.«
    »Nein, bin ich nicht.«
    Er grinste weiter, und sie sah, dass er eine Zahnspange hatte, so eine durchsichtige, die man nicht unbedingt gleich bemerkte. Sie fand, dass seine Vorderzähne ziemlich gut aussahen und wünschte, sie könnte eine Spange kriegen, weil sie einen schiefen Zahn rechts vorne hatte, von dem Sissy sagte, dass er sie wirken ließ wie ein blöder Vampir.
    Der Junge machte es sich gemütlich, streckte die Beine aus und legte die Knöchel über Kreuz. »Ich wette, du hast diese blöden Wettbewerbe satt, oder? Und all den Mist, der hier los ist. Ich hab dich bei den meisten davon gesehen. Du guckst immer traurig, wusstest du das?«
    »Ich hasse sie.«
    »Ich auch.«
    »Und ich hasse meine kleine Schwester sogar noch mehr.«
    »Ich hasse meine auch, alle beide.«
    Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie ihn überrascht an, dann lächelte sie. »Wirklich? Ich dachte, ich wäre die Einzige hier, die ihre eigene Schwester hasst.«
    »Nein, jeder, der eine Schwester bei diesen blöden Wettbewerben hat, hasst sie. Das sind einfach nur verzogene Ziegen.«
    »Ja, Ziegen. Und ich hasse auch Sissys Lächeln. Alle sagen, sie sieht dann aus wie ein Engel, aber das ist sie überhaupt nicht. Sie ist echt gemein.«
    »Ja, wie in ›dass einer lächeln kann und immer lächeln, und doch ein Schurke sein‹.«
    »Was soll das denn heißen?«
    »Es heißt, jemand kann ganz nett gucken und hübsch lächeln, als wäre alles in Ordnung, aber unter dem breiten Grinsen planen sie schon, dich fertigzumachen. Ein Typ namens Shakespeare hat das in einem seiner Stücke geschrieben. Es heißt Hamlet. Der Mann meiner Englischlehrerin ist Schauspieler, und sie hat ihn mal eingeladen und uns eine Szene daraus vorspielen lassen. Es spielt in Dänemark.«
    »Wer ist Shakespeare?«
    »Bloß so einer, der einen Haufen Stücke geschrieben hat, vor langer Zeit.« Der Junge grinste immer weiter. Die Ältere beobachtete ihn und fand wider Willen, dass er ganz niedlich aussah mit seinen dunklen Haaren, die lang genug waren, um sich um seine Ohren zu kringeln. Er hatte einen Ring im linken Ohr, einen kleinen Goldring, an dem irgendein komischer Anhänger hing. Sie durfte keine Ohrlöcher haben, aber Sissy wohl, damit sie bei den Wettbewerben

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