Die kalte Nacht des Hasses
jemand am besten hätte abschließen und dann den Schlüssel wegwerfen sollen. Ich dachte an Hildes schreckliches Skelettgrinsen und wusste, dass Brianna diese Entscheidung den Rest ihres Lebens bereuen würde.
Clarence Lohman, der Leiter der Zeremonie und Besitzer des Beerdigungsinstitutes, stand neben dem Sarg Wache, er wartete auf das Signal, ihn in den großen Saal zu schieben. Klein, dünn, spitze Züge, Bleistiftbärtchen wie Don Ameche in den Cocoon- Filmen und etwa im selben Alter, Anfang achtzig, vielleicht etwas älter. Er trug einen traurigen Anzug und den passenden Gesichtsausdruck. Er hörte sich Buds leise Bitte an, schaute extrem besorgt, schüttelte vehement den Kopf. Auch er wollte nicht, dass Brianna die Leiche ihrer Schwester sah. Brianna trat näher und sprach einen Augenblick mit Lohman, dann nickte der zögernd, bevor er wieder den ernsthaften, mitfühlenden Ausdruck mit gesenktem Kopf annahm, den sie einem offenbar am ersten Tag der Ausbildung zum Beerdigungsunternehmer beibrachten. Ich fragte mich, was er in Wahrheit dachte, wenn er auf den Beerdigungen irgendwelcher Fremder herumstand und besorgt schaute, vielleicht an das Baseballspiel der Cardinals heute Nacht oder ob seine Frau zum Abendessen Lasagne machte, oder vielleicht war er auch wirklich so mitfühlend, wie er aussah. Die Orgel spielte leise und herzerweichend »In the Sweet By and By«. Gott helfe mir, ich hasse Beerdigungen.
Ich wollte Briannas Gesicht nicht sehen, wenn sie Hildes lippenlose Grimasse anstarrte, also konzentrierte ich mich auf Black und Jude und versuchte, stattdessen an die beiden zu denken. Sie sahen verdammt gut zusammen aus, zu gut, unglücklicherweise. Statt ein toller Psychologe zu sein, hätte Black es auch als Dressman schaffen und auf den Laufstegen unterwegs sein können. Die Zuschauerinnen würden wahrscheinlich schon aufgrund seines reinen Sexappeals ohnmächtig werden. Im Moment sah er mich mit einem Was-zum-Teufel-ist-los-Blick an. Jude hingegen bedachte ihn mit einem Du-bist-meine-Seele-und-meine-größte-Lebensfreude- Blick. Also verpasste ich ihr meinem Verpiss-dich-Alte-du-hattest-deine-Chance- Blick. Oh, bahnte sich hier etwa ein Liebesdreieck an?
Black musste mein Interesse bemerkt haben, denn er erhob sich, durchquerte den Saal und setzte sich neben mich. »Was ist los, Claire?«
»Sie will unbedingt die Leiche sehen, selbst nachdem Bud ihr von den Verstümmelungen erzählt hat. Ich möchte ihre Reaktion nicht sehen. Ich wünschte, ich könnte einfach gehen.«
Ich wartete immer noch auf einen entsetzten Schrei, der aber nicht kam, und Black beobachte Brianna und Bud. Er runzelte die Stirn und sagte: »Sie haben den Sarg geöffnet, aber Brianna scheint überhaupt nicht mitgenommen.«
Etwas entsetzt darüber wandte ich mich um und sah, wie Brianna den Anhänger zu ihrer Schwester in den Sarg legte, aber weder Schrecken noch Ekel zeigte, jedenfalls nicht hörbar. Überrascht bemerkte ich, dass Bud und der Bestattungsunternehmer dreinschauten, als hätten sie einen Geist gesehen. Ich erhob mich und ging, Black dicht hinter mir, ins Nebenzimmer. Ehrlich gesagt, das Letzte, was ich auf der Welt sehen wollte, war noch einmal Hildes verstümmeltes Gesicht, aber Briannas entspannte Reaktion war einfach ein bisschen zu bizarr, um sie zu ignorieren.
Als ich den Sarg erreichte, begriff ich sofort, warum Brianna nicht verstört reagiert hatte und warum Bud und der Beerdigungsmensch so blöd guckten. Ich starrte Hilde Swensen in ihrem mit weißem Satin ausgestatteten Sarg und auf dem wundervoll bestickten Kissen, unter dem mit Seide ausgeschlagenen Deckel ungläubig an. Denn ihr Mund war nicht mehr verstümmelt. Ihre Lippen waren angenäht und gekonnt mit feuerwehrrotem Lippenstift geschminkt worden. Sie sah friedvoll und liebenswert aus, und nicht, als hätte ein durchgeknallter irrer Mörder sich daran aufgegeilt, ihr die Lippen abzuschneiden.
»Ich danke Ihnen, Mr Lohman. Sie sieht aus, als würde sie bloß schlafen«, sagte Brianna zu dem Beerdigungsunternehmer, dann nahm sie Buds Arm und ging langsam zurück in die Kapelle. Bud starrte mich an und runzelte die Stirn.
»Wie haben sie es geschafft, dass ihr Mund so gut aussieht?«, fragte ich Mr Lohman.
Er sah mich an. »Habe ich nicht.«
»Was soll das heißen, haben Sie nicht?«
Er zuckte mit den Achseln und wirkte ehrlich verlegen. »Der Sarg sollte geschlossen bleiben. Wir haben natürlich die Leiche vorbereitet und drapiert, aber wir
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