Die Kalte Zeit
etwas?«
Gisela Martini sah Gesa mit ernstem Gesicht an. »Beim Aufwachen hatte ich ein schreckliches Gefühl. Ich glaube, der Traum endete so: Du hast gerufen, doch niemand hat dich gehört. Sie haben dich da unten vergessen.«
Gesa schluckte. Sie musste etwas sagen, etwas Lockeres, Heiteres, um Gisela Martinis Traumbilder zu vertreiben, doch ihr fiel nichts ein. Sie hatte auf einmal Angst.
»Sie sollten etwas trinken.« Sie stand auf und fühlte die Stirn der Siebzigjährigen. Fieber schien sie nicht zu haben. »Ich mach Ihnen einen Tee.«
Gesa ging die Treppe hinunter in die Küche und setzte in einem Blechkessel Teewasser auf. Alles hier war alt, vom täglichen Gebrauch in vielen Jahrzehnten abgenutzt. Gesa betrachtete ein Zuckertöpfchen, weißes Porzellan mit einem zierlichen blauen Blumenmuster. Sie hob den Deckel hoch. Der Zucker hatte Feuchtigkeit gezogen und war steinhart geworden. An der Wand hing ein vergilbtes Foto vom Martinihof. Gesa setzte sich und strich über das speckige Wachstuch auf dem Küchentisch. Auf den Fensterbänken und im Regal lag Staub, und der Herd war schon lange nicht mehr vernünftig geschrubbt worden.
Gesa beschloss, Juliane anzurufen. So ging es nicht weiter. Walther Martini war überfordert, mit dem Hof, den Tieren. Diese Vergesslichkeit . . . wenn das der Beginn einer Demenz war?
Gesa verstand Juliane nicht. Düsseldorf war nur einen Katzensprung weg. Warum kam sie nicht öfter und half den Eltern? Klar, sie hatte unmögliche Arbeitszeiten, morgens Proben, abends Vorstellungen. An den spielfreien Abenden kellnerte sie, denn von der mageren Gage an dem Off-Theater allein konnte sie nicht existieren. Aber es war genau das Leben, das sie führen wollte.
Das Teewasser kochte. Gesa suchte in den Schränken, fand eine Kanne und schließlich auch eine volle Packung Pfefferminztee mit altmodisch anmutendem Design. Gesa nahm sich vor, frischen Tee für Oma Martini zu besorgen. Sie goss auf und war fast erstaunt, dass sich das Wasser in der Kanne grün färbte und sich ein leichter Duft nach Minze im Raum verbreitete.
Wolf Hendricks schob den Riegel auf und öffnete einen Torflügel des Hofladens in der Scheune. Ein leichter Geruch nach Zimt wehte ihm entgegen, und einen Moment lang fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. So hatte es geduftet, wenn er als kleiner Junge in die Küche gelaufen war, wo seine Mutter etwas Weihnachtliches buk oder kochte. Er schloss die Augen und atmete noch einmal tief ein, doch das kleine Glücksgefühl war schon verschwunden. Es war dunkel in dem fensterlosen Raum, aber er machte kein Licht, sondern tastete mit der Hand in Bodennähe hinter das Regal mit den selbst eingekochten Marmeladen. Da war die Flasche. Er zog sie hervor und nahm einen tiefen Schluck. Der Cognac brannte in der Speiseröhre, es war der billige aus dem Supermarkt. Noch einen Schluck. Wolf schob die Flasche zurück. Vermutlich wusste Anna von seinem Versteck, doch sie sagte nichts. Ihm fiel ein, dass sie heute wegen ihrer Rückenschmerzen beim Arzt war. Wolf trat auf den Hof und wollte gerade die Torflügel schließen, als er das Telefon im Haus hörte. Wo war eigentlich Gesa?
Wolf betrat Annas Küche. Felix hockte am Tisch und zeichnete Comicfiguren auf den Rand seines Rechenheftes. »Hallo Papa.«
»Felix, bist du taub? Das Telefon klingelt!« Wolf nahm das Gespräch an.
»Guten Tag, hier ist Carola Schiefner-Wallner, Vorzimmer von Bürgermeister Hünges. Ich würde gern mit Herrn Verhoeven sprechen. Mit Konrad Verhoeven.«
»Mein Schwiegervater ist gerade nicht da. Kann ich Ihnen auch helfen?«
Die Sekretärin zögerte kurz. »Es geht um eine Terminvereinbarung. Bitte richten Sie ihm doch aus, er soll mich zurückrufen. Und bitte . . . es ist relativ eilig.«
»Ich sage es ihm.« Wolf notierte die Durchwahl. »Worum geht es denn eigentlich?«
»Tut mir leid, da darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Auf Wiederhören.« Sie legte auf.
Wolf stand einen Moment still, den Hörer in der Hand. Der Bürgermeister? Eilig? Er hatte keine Idee, was sich hinter diesem Anruf verbergen konnte. Aber er würde es herausfinden.
Als Gesa den Hof der Martinis verließ, sah sie gerade noch Wolfs blauen BMW um die Ecke biegen und verschwinden. Sie sah auf die Uhr. Wo wollte der denn jetzt noch hin, so kurz vor dem Mittagessen?
In Annas Küche gab sie Felix einen Kuss auf die Stirn, dankte ihm fürs Aufpassen und schob drei große Baguettes in den Ofen. Noch zehn
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