Die Kalte Zeit
Bett und las dicke Romane mit ernst und traurig klingenden Titeln.
Dann kam der Tag, an dem Juliane in der Krefelder Fußgängerzone einen Stand von Amnesty International entdeckte. Sie diskutierte lange mit einem ernsthaften, schlaksigen jungen Mann. Er hieß Kalle. Juliane wurde Mitglied und tat fortan nichts anderes mehr, als mit Kalle in stümperhaftem Englisch Diktatoren in aller Welt aufzufordern, politische Gefangene freizulassen. Manchmal machte Gesa mit, weniger aus Überzeugung als mehr aus dem Wunsch heraus, Juliane nicht völlig zu verlieren.
Als mit Kalle Schluss war, ließ auch Julianes Aktivität für die Gruppe nach. Ihr nächster Freund, Dominik, kam aus einem reichen Elternhaus in Meerbusch. Er war Pazifist und engagierte sich gegen den Zweiten Golfkrieg. Er besaß schon ein eigenes Auto, ein Cabriolet, mit dem er zu Demos in ganz Nordrheinwestfalen fuhr. Gesa sah sie davon brausen: ein selbst genähtes Transparent mit der Aufschrift ‚Kampf dem Krieg am Golf! Gegen Hunger, Vertreibung, Völkermord’ und Julianes grün-rosa Kopftuch flatterten fröhlich im Wind. Dominik zeigte Juliane die Düsseldorfer Kneipen, lud sie ins Kino und ins Theater ein. Sie rauchten Gras und tranken Sekt.
Konrad verbot Gesa den Umgang mit Juliane. Das führte zu einem Zerwürfnis zwischen den Martinis und den Verhoevens, das niemals offen ausgetragen wurde, aber die nachbarschaftlichen Beziehungen bis heute trübte. Konrads Verbot schweißte die Mädchen für kurze Zeit noch einmal zusammen, doch sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen, so dass die Freundschaft von selbst einschlief. Juliane ging nach dem Abitur auf eine Schauspielschule und jobbte in einer Tanzbar in der Altstadt. Das war für Konrad die letzte Bestätigung, dass Juliane kein Umgang für seine Tochter war.
Gesa lief zum Wohntrakt der Martinis an der rechten Seite und klopfte an die kleine Holztür mit der abgeblätterten Farbe. Sie rief laut. Nichts, keine Antwort. Durch das Küchenfenster im Erdgeschoss ließ sich auch nichts erkennen. Sie öffnete die Tür und trat in den dunklen Flur. »Hallo? Ist jemand zuhause? Hier ist Gesa!«
Das muffige Haus schwieg sie an. In den Wänden saß die Feuchtigkeit, an der Decke zeichneten sich dunkle Stockflecken ab. Sie müssten alles hier abreißen und neu bauen.
Gesa lauschte. War da nicht ein Geräusch gewesen? »Herr Martini?« Gesa stieg die Treppe hoch.
»Hallo?« Die Stimme von Gisela Martini kam aus dem Schlafzimmer. Die Tür war nur angelehnt.
Gesa klopfte. »Ist jemand da? Nicht erschrecken, ich bin es nur, Gesa«. Sie schob die Tür auf. Frau Martini lag im Bett, die Hände um die Bettdecke gekrampft. Sie war blass. Gesa war mit zwei Schritten bei ihr. »Was ist denn? Geht es Ihnen nicht gut?«
Gisela Martini wandte den Kopf zu Gesa. »Doch, doch. Es geht schon. Ich kann nur nicht aufstehen.«
»Warum nicht? Was haben Sie denn?« Gesa nahm vorsichtig ihre Hand.
»Wird wohl eine Grippe sein.«
»Wo ist denn Ihr Mann?«
»Er wollte zur Apotheke gehen. Aber wer weiß, was das wieder wird. Er ist so vergesslich geworden, Gesa, das kannst du dir nicht vorstellen. Den ganzen Tag räume ich hinter ihm her. Und die Ställe! Das ist alles in einem Zustand! Er ist selbst verzweifelt, aber er will nicht darüber reden. So geht das doch nicht weiter.«
Gesa gab ihr im Stillen Recht, aber sie schwieg. Sie wollte nicht, dass sich Gisela Martini noch mehr aufregte.
»Ich hab auch noch Medikamente drüben«, sagt Gesa. »Ich seh gleich mal nach.«
»Du bist so lieb, Gesa«, sagte Gisela Martini. »Mir geht’s schon gleich besser durch deinen Besuch. Anna und Konrad sind sicher sehr stolz auf dich.« Sie drückte Gesas Hand. »Übrigens habe ich letzte Nacht von dir geträumt. Aber es war leider nichts Schönes.«
Sie wandte den Blick ab, als täte es ihr leid, davon angefangen zu haben.
Gesa lächelte. »Was haben Sie denn geträumt?«
»Du lagst in einem dunklen . . . was war es nur? Ein Schacht. Oder ein tiefer Brunnen. Jemandem ist was hineingefallen, und du hast es gesucht. Aber aus irgendeinem Grund . . . warst du zu lange dort unten. Kamst nicht mehr heraus.« Sie verzog den Mund und sah verlegen aus. »Ich träum oft so verrücktes Zeug.«
Gesa war verwirrt. Etwas an Gisela Martinis Traum traf sie tief in ihrem Inneren. Sie fühlte sich auf einmal traurig und einsam. Das sollte Gisela Martini nicht merken. Gesa schüttelte den Kopf und lächelte. »Wie kommen Sie nur auf so
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