Die Kalte Zeit
Zagrosek.
Dann inspizierte er noch mal die Eingänge. Er wünschte, die SMS wäre wirklich von Vera gewesen. Vielleicht hatte er ja eine Nachricht übersehen? Nein, da war nichts. Kein Wort mehr, seit sie an dem Abend seine Wohnung verlassen hatte. Vielleicht sollte er ihr schreiben. Aber was er empfand, ließ sich nicht in fünf Worte fassen. Er konnte sie für sein Zögern nicht um Verzeihung bitten. Er hatte sie nicht verletzen wollen. Er war nur unsicher. Vielleicht hatte er auch Angst. Und wenn er genau das schreiben würde? Ich will mit dir zusammen sein, aber ich habe Angst vor einem neuen Scheitern. Nein, viel zu lang.
»Du kriegst dieses Handy noch kaputt«, meinte Blessing.
Zagrosek bemerkte erst jetzt, dass er die zierliche Klappe auf und zu schnappen ließ und dabei fast überdehnt hatte. Er ließ das Gerät in der Tasche verschwinden. Solange Blessing ihn beobachtete, bekam er sowieso keine Nachricht an Vera zustande.
Nellessen kam herein. »Geht mal auf die Webseite dieser Fachzeitschrift ‚Nadel Journal’.«
»Wieso?«, fragte Blessing.
»Da steht was über Gesa Hendricks.«
Zagrosek rief die Seite auf und las: »,Innovation in Sachen Nordmann. Gesa Hendricks aus dem Kreis Neuss beerntet über dreißig Jahre alte Auslesebäume. An den Nordmanntannen aus der Herkunft Borshomi in Georgien reifen Zapfen mit Qualitätssamen’.« Zagrosek scrollte an den Anfang des Artikels. »Das ist aktuell. Der Artikel ist erst vor einigen Tagen erschienen.«
»Wie schön«, meinte Blessing. »Gesa Hendricks scheint ihre Pläne durchgesetzt zu haben.«
»Wieder dieses Borshomi«, Zagrosek rieb sich über die Stirn. »Hast du darüber schon mehr?«, fragte er Nellessen.
Der nickte. »Borshomi ist ein staatlicher Nationalpark, beliebt bei wanderfreudigen Touristen, Baum- und Vogelkundlern. Bis vor wenigen Jahren eine der bevorzugten Regionen für die Ernte von Nordmanntannensamen. Heute übrigens Sperrgebiet für Pflücker.«
Blessing und Zagrosek sahen sich an.
»Heißt das, an die Nordmanntannen in diesem Gebiet kommt keiner der Samenhändler mehr ran?«, fragte Zagrosek und griff zum Telefon. »Dann hätte Gesa Hendricks ein Monopol auf diese Samen?«
»Scheint so zu sein.« Nellessen lehnte sich gegen den Aktenschrank. »Wen rufst du an?«
»Einen, der sich auskennt.«
Herbert Graupner meldete sich nach dem dritten Klingeln. Zagrosek wollte ihm von dem Artikel über Gesa Hendricks erzählen, doch Graupner unterbrach nach wenigen Worten. »Hab ich schon gelesen.«
»Wir haben recherchiert, das Borshomi heutzutage für Samenpflücker gesperrt ist. Die Gegend wurde zum Nationalpark erklärt.«
Graupner schnaufte belustigt. »Aber nicht wegen der Pflücker. Da sind noch ganz andere Geschäfte gelaufen. Die Georgier haben abgeholzt, was sie konnten und die Bäume zur Holzproduktion in die Türkei geschafft. Alles illegal natürlich. Hat dazu geführt, dass in dem Tal kaum noch eine Tanne steht. Zumindest weiter unten in der Schlucht. In die höher gelegenen Bereiche konnten sie mit den LKW nicht vordringen. Dort werden auch heute noch illegal Samen gepflückt. Aber die Gegend ist unwirtlich und nur zu Fuß zu erreichen, das ist ziemlich mühsam. Und der georgischen Polizei möchte man auch nicht begegnen. Die Regierung hat nämlich keine Lust mehr, sich Geschäfte durch die Lappen gehen zu lassen. Ich vermute, die forsten jetzt den sogenannten Nationalpark wieder auf und versteigern da später mal teure Pflücklizenzen.«
Zagrosek wechselte den Hörer ans andere Ohr. »Aber im Moment sind Verhoevens alte Nordmanntannen so wertvoll, weil man von denen diese Borshomi-Samen ernten kann?«
»Ernten konnte.« Graupner atmete hörbar ein. »Die meisten sind ja verbrannt.«
17. Dezember
Gesa lag, die Augen halb geschlossen, auf der Seite und folgte dem Kreisen des Sekundenzeigers vor der Nachtbeleuchtung ihres Weckers.
Lars’ Küsse, das Aufheulen des Martinshorns, Julianes Entsetzen, ihre eigenen Schuldgefühle. Und immer wieder das Bild von Lars im Hof stehend, mit seinem Mantel und der Kippe zwischen den Fingern. So kühl, so gefasst. Was war in ihm vorgegangen? Sie hatte keine Ahnung, sie kannte ihn gar nicht! Über die Jahre hatte sie sich ein Bild von ihm bewahrt, doch es stimmte nicht überein mit dem Lars, der er heute war. Es hatte vielleicht nie übereingestimmt.
Wie sollte es nur weitergehen? Wolf war schlecht gelaunt und angespannt; von ‚gemeinsam an einem Strang ziehen’ war seit Konrads
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