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Die Kalte Zeit

Die Kalte Zeit

Titel: Die Kalte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Kliem
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war ihr der Anblick ihres toten Mannes erspart geblieben. Sich selbst hatte er die Waffe in den Mund gehalten und abgedrückt. Durchschuss. Kissen und Wand hinter ihm hatten ausgesehen, als habe jemand eine rote Farbpatrone abgeschossen. Dazwischen, hell und flockig wie Griesbrei, Fetzen des Gehirns.
    Die Tochter hatte sie gefunden. Sie musste mit diesem Bild in ihrem Kopf von nun an leben.
    Juliane Martini war das einzige Kind. Eine kleine, zierliche Frau. Hochsteckfrisur, Ohrringe, überhaupt viel
    Schmuck zu dem eleganten, dunklen Wollkleid. Hochhackige Lederstiefel. Eine Schauspielerin. Die hatte ihr Elternhaus weit hinter sich gelassen. Aber ihre Verzweiflung hatte echt gewirkt. Noch bei der Vernehmung war sie in Tränen aufgelöst gewesen. Sie verstand es nicht. Gesa Hendricks hatte den schlechten Zustand des Hofes beschrieben, obwohl sie ihrer Freundin keinen offenen Vorwurf machte. Juliane sei zu Besuch gekommen, so oft es ihr Terminplan zuließ. Was hieß ‚oft’? Etwa zweimal im Monat an den Wochenenden, hatte Gesa Hendricks angegeben. Zagrosek fand das recht beachtlich. Wenn er sich alle drei Monate bei seiner Mutter in Krefeld-Oppum sehen ließ, war das schon viel. Aber die saß auch meist auf ihrem Sofa vor dem Fernseher. Ein Bauernhof mit Feldern, Schweinen, Gänsen und Hühnern war schon etwas anderes. Doch warum hatten die Martinis sich nicht Hilfe geholt? Einen . . . Knecht?
    »Sagt man eigentlich noch ‚Knecht’?«, fragte er laut.
    Blessing sah auf. »Wie bitte?«
    »Knecht. Einer, der auf Bauernhöfen aushilft. Nennt man das noch so?«
    »Keine Ahnung. Wieso?« Sie inspizierte ihr Handy auf dem Tisch.
    »Gab es keinen anderen Ausweg, als sich das Leben zu nehmen? Sie hätten sich doch Unterstützung holen können.«
    »Es gibt Leute, die können keine Hilfe von anderen annehmen. Zu stolz«, meinte Blessing. »Vermutlich sind die Martinis immer allein zurecht gekommen.«
    Ihr Handy klingelte. Das Gerät am Ohr trat sie auf den Flur.
    Zagrosek ging die Begegnung mit Lars Schäffer im Kopf herum. Der Regionalkommissar war früh morgens bei Gesa Hendricks gewesen. Aus privaten Gründen, wie er angab. Er und Gesa Hendricks hatten angeblich auf dem Heuboden nach schreienden Katzen gesucht, während Walther Martini tot im Wohntrakt lag. Bei einer Durchsuchung der Hofgebäude hatten Zagrosek und Blessing eine Wolldecke und eine ausländische Wasserflasche auf dem Heuboden gefunden. Sie hatten die Sachen in die Asservatenkammer gegeben, noch unschlüssig, was sie damit anfangen sollten. Gab es einen Zusammenhang zwischen diesen Gegenständen und einem der Verbrechen? Lars Schäffer hatte nichts dazu sagen können.
    Zagrosek zog sein Notizbüchlein aus der Hosentasche. ‚Borjomi’ hatte auf dem Flaschenetikett gestanden. Das klang wie ‚Borshomi’, die Gegend im Kaukasus, von der Graupner ihnen erzählt hatte. Er gab das Wort in eine Suchmaschine ein. Nach kurzer Zeit wurde er fündig: ‚Borjomi’ hieß ein Mineralwasser aus der georgischen Berggegend.
    Blessing kam zurück ins Zimmer.
    »Die Flasche auf dem Heuboden stammt aus Borshomi«, sagte Zagrosek. »Ein Exportschlager der georgischen Wirtschaft. Salzig schmeckendes Wasser aus einer Heilquelle. Wurde Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entdeckt.«
    Blessing setzte sich. »Wie kommt eine georgische Flasche auf den Heuboden eines Neusser Bauern? Kann man die irgendwo kaufen?«
    »Vielleicht in Düsseldorf. Oder jemand hat sie aus Georgien mitgebracht.«
    »Du denkst an Konrad Verhoevens Affäre damals?« Blessing sah ihn nachdenklich an. »Ein Rachemotiv? Nach dieser langen Zeit?«
    Zagrosek schüttelte den Kopf. Das ergab nicht wirklich einen Sinn. Sie hatten nicht mehr als lose Fäden. Jede Frage, die sie stellten, führte ins Leere, zog neue Fragen nach sich.
    Zagrosek strich mit dem Finger über seine Bartstoppeln. Als er heute früh an den Tatort gerufen wurde, hatte er vergessen, sich zu rasieren. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Er bemerkte erst nach einigen Sekunden, dass er sein Spiegelbild sah, und erst dahinter den dämmrigen Fürstenwall, auf dem Autoscheinwerfer aufblitzten und vorbeihuschten. Die Flasche und eine Wolldecke hatten auf dem Heuboden gelegen. Warum? Hatte jemand dort übernachtet? Nein, dazu war es viel zu kalt. Aber der Ort eignete sich für etwas anderes.
    »Ich denke, jemand hat Verhoevens Haus durch das Fenster im Heuboden beobachtet«, sagte Zagrosek laut. »Jemand, der georgisches Heilwasser

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