Die Kalte Zeit
Tod keine Rede mehr. Wolf erschien ihr mit jedem Tag unnahbarer. Auf der einen Seite war sie froh darüber. Seit der Begegnung mit Lars auf dem Heuboden war sie vollkommen durcheinander, und das durfte Wolf auf keinen Fall merken. Auf der anderen Seite hatte sie sich vorgenommen, mit ihm zu reden, noch mal ihre Pläne mit der Baumschule anzusprechen, ihm konkrete Vorschläge zu machen, in welchem Zeitraum sie welche Flächen brauchte. Auf jeden Fall würde sie die Zapfen bei Graupner abholen und wieder in die eigene Halle einlagern. Gleich morgen.
Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen. Wolf kam von der Weihnachtsfeier seines Schützenzuges zurück. Seine Schritte auf der Treppe. Die fünfte und die neunte Stufe quietschten, dann war er oben und öffnete die Badezimmertür. Gleich würde er urinieren, dann folgte das Rauschen der Spülung. Nein, es blieb einen Moment still. Gesa hörte Wolf stöhnen, dann das Öffnen des Spiegelschranks. Flaschen klirrten. Ein Gegenstand fiel scheppernd zu Boden. Wolf fluchte.
Gesa stand auf, trat auf den Flur, schaltete das Licht ein. Von der Treppe bis zum Bad leuchteten rote Tropfen auf dem Teppich. Blut!
»Wolf?« Gesa sah seinen breiten Rücken über das Waschbecken gebeugt. Als er sich umwandte, erschrak sie. Über seiner Augenbraue klaffte eine Platzwunde. Wolf versuchte, das Blut mit Klopapier aufzufangen. Die Haut unter seinem Auge bis in den Winkel verfärbte sich bläulich. Er roch säuerlich, auf seiner Jacke hingen Reste von Erbrochenem.
Gesa blieb im Türrahmen stehen. »Wolf! Was ist passiert?«
Er schwankte. »Wo sind die beschissenen Zapfen? Wo hast du sie hingebracht?«
»Setz dich hier hin.« Gesa schloss den Deckel der Toilette, und er sank schwer auf den Sitz. Sie roch den Alkohol in seinem Atem.
»Mein Kopf tut so weh.«
»Lehn dich zurück!« Gesa besah die Wunde genauer und war unsicher, ob sie genäht werden musste. Vielleicht hatte er auch eine Gehirnerschütterung?
»Wir sollten einen Arzt anrufen. Oder ich fahre dich in die Ambulanz.«
»Nein!« Wolf hob den Kopf. »Keinen Arzt. Ich will wissen, wo die Zapfen sind.«
Gesa zitterte. Was sollte sie ihm sagen? Sie musste Zeit gewinnen. »Erstmal müssen wir uns um die Wunde kümmern.«
Sie überlegte, ob sie ihre Mutter wecken sollte, entschied sich aber dagegen. Anna würde sich zu sehr aufregen. Gesa suchte im Schrank nach Jod und Verbandszeug. Sie desinfizierte die Wunde. Wolf reagierte kaum, obwohl es doch brennen musste. Gesa legte einen Kopfverband an. Sie hatte das noch nie gemacht, aber es klappte ganz gut. Sie reinigte sein Gesicht vorsichtig mit einem feuchten Waschlappen, zog ihm Jacke und Hemd aus und stopfte beides in den Wäschekorb. Nun musste sie es nur noch schaffen,
ihn ins Bett zu bringen.
»Kannst du aufstehen und rüber gehen?«
Wolf brummte und stützte sich an der Wand ab, dann auf Gesas Schulter. So schlurften sie ins Schlafzimmer. Gesa breitete ein Handtuch über Wolfs Kopfkissen, falls noch Blut durch den Verband dringen sollte. Wolf sank ins Bett und stöhnte, aber es klang erleichtert.
Gesa setzte sich auf seine Bettkante. »Was ist denn nur passiert?«
»Du bist an allem schuld.«
»Sag doch endlich.«
Wolf schloss die Augen. »Drei Typen. Sie haben mir aufgelauert, vor dem Brauhaus in Büttgen. Sie haben mich in den Magen geschlagen. Ich musste in ein Auto steigen. Die sind raus gefahren auf die Felder. Da musste ich aussteigen.« Er kniff die Augen zusammen. »Sie wollen die Nordmannzapfen haben. Ich habe gesagt, sie sollen die Scheißzapfen mitnehmen und sie sich einzeln in den Arsch schieben. Ich musste sie zur Halle führen. Und die verdammte Halle war leer!« Wolf packte Gesas Handgelenk und drückte zu, bis sie aufschrie. »Die dachten, ich hätte sie verarscht. Und dann haben sie richtig zugeschlagen.« Er tastete mit der Hand am Verband entlang. »Sie haben mich am Birkhof, beim Golfclub, aus dem Auto gestoßen und sind abgehauen. Aber sie kommen wieder. Wo sind die Zapfen?«
Gesa versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Was redete Wolf da? Was waren das für Typen? Was wollten sie mit ihren Samen? Wer klaute denn Nordmanntannenzapfen? Aber der Artikel im ‚Nadel Journal’! Die Zeitschrift wurde von der gesamten Branche gelesen. Von der Konkurrenz. Befürchtete jemand, dass sie ihm mit ihren Samen das Geschäft kaputtmachte? Das war doch absurd . . . So etwas traute sie niemandem zu. Das waren ja Methoden wie bei der Mafia.
»Ich warte«,
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