Die Kalte Zeit
anderen schwiegen. Zagrosek rieb sich die Stirn. Irgendetwas vergaßen sie, eine entscheidende Information. Er lehnte sich zurück, nahm die wieder auflebende Diskussion nur noch als Hintergrundgeräusch wahr. Warum hatte Verhoeven sich anders entschieden, als alle es von ihm erwarteten? Ging es ihm um den Paukenschlag, um die Überraschung? War das seine Art, Macht auszuüben, die anderen zu terrorisieren? Oder wurde er gezwungen, erpresst? Was war Konrad Verhoeven für ein Mensch gewesen? Sie wussten viel zu wenig über ihn. Aber auch für die Leute, die ihm nahe standen, oder ihn lange kannten wie Herbert Graupner, schien Verhoeven ein Rätsel gewesen zu sein.
»Wir haben den falschen Blickwinkel«, sagte er laut. Die anderen sahen ihn an. Vermutlich hatte er jemanden mitten im Satz unterbrochen. »Den der Familienmitglieder, Konkurrenten, Geschäftspartner. Was haben sie von ihm erwartet, und wie hat er sich verhalten?« Zagrosek war selbst nicht sicher, worauf er eigentlich hinauswollte, er spürte nur, dass sich ein wichtiger Gedanke in seinem Kopf verbarg. »Er war ein Einzelgänger, ein Eigenbrötler. Die Leute um ihn herum waren ihm schnuppe. Ihn interessierte nur eines, das, was er selbst wollte.«
»Alles beim Alten lassen, das wollte Verhoeven.« Kleinschmidt stand auf. »Und genau dazu passt diese Sprunghaftigkeit nicht.«
Zagrosek schüttelte den Kopf. Es war zum Verzweifeln, er hatte das Ende des Fädchen fast in der Hand gehabt, um den Knoten aufzudröseln, doch nun, nach Kleinschmidts Bemerkung, war alles weg. Kleinschmidt war selbst sprunghaft. Bei dem Gespräch auf den Feldern jammerte er herum, hier am Tisch gab er den coolen Ermittler. Sofort schaltete sich Zagroseks Gewissen ein, Kleinschmidt war . . .
»Noch mal von vorn«, unterbrach Nellessen seinen Gedanken, »was wissen wir über ihn? Verhoeven war ein Einzelgänger, ein Eigenbrödler, machtbesessen, stur . . .«
»Todkrank«, murmelte Zagrosek und holte Luft. Da war das Ende des Fädchens. Die Krankheit war das Ereignis, das Verhoevens Leben auf den Kopf gestellt hatte.
»Was hast du gesagt, Tom?«, fragte Lammert.
»Der Krebs. Auf einmal erfährt er, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Er muss sich entscheiden, wem er den Hof überlässt. Wolf Hendricks oder seiner Tochter. Und er entscheidet sich für Wolf Hendricks.«
Fünf Minuten später rief Zagrosek Anna Verhoeven an und ließ sich den Namen von Verhoevens Arzt in Büttgen geben. Er erreichte den Arzt unter seiner Privatnummer.
»Ich habe in der Zeitung von dem Brand gelesen«, sagte Dr. Bohnen, nach der Stimme zu urteilen ein älterer Mann. Er seufzte. »Verhoeven war kurz vorher bei mir in der Sprechstunde.«
»Weswegen?«
„Er hatte Schmerzen. Er war sehr schwer krank.“
»Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Lebermetastasen. Im Endstadium«, sagte Zagrosek.
»So was bekommen Sie als Hausarzt in Büttgen nicht oft zu sehen.«
»Wann war er bei Ihnen? Wir müssten es bitte genau wissen.«
»Das kann ich Ihnen jetzt am Wochenende nicht sagen. Der Terminkalender ist in der Praxis.«
Zagrosek bat ihn, hinzufahren und nachzusehen.
Eine halbe Stunde später meldete sich der Arzt: »Das war am dritten Dezember, morgens um Zehn.«
»Wie war sein Zustand?«
»Er klagte über Schmerzen im Unterbauch, Schlaflosigkeit und starken Nachtschweiß. Gewichtsverlust. Mir fiel eine gelbliche Verfärbung der Augenpartie auf. Das ließ auf Probleme in der Galle oder Leber schließen. Es waren Lebermetastasen. Dann der Befund im Ultraschall. Ich konnte Tumore sehen.«
»Wollten Sie ihn weiter behandeln?«, fragte Zagrosek.
»Nein, wo denken Sie hin. Ich hab ihn sofort zu einem Spezialisten in die Uniklinik überwiesen. ‚Kann der Mann mich heilen?’ Das hat Verhoeven mich ganz direkt gefragt. In Anbetracht der Metastasen . . . Also, ich bin einer ehrlichen Antwort ausgewichen. Man soll einem Menschen niemals die Hoffnung nehmen.«
3. Teil
Wolf nahm die Hofeinfahrt zu schnell. Er musste scharf abbremsen, um nicht an die Mauer zu prallen. Er stieg aus und warf die Wagentür zu. Die Tür des Hofladens stand auf, ein fremder, dunkelblauer Opel parkte dort, aber es war kein Kunde zu sehen. Auch Anna war verschwunden. Die Umstände schienen günstig für einen kurzen Abstecher. Wolf hatte eine neue Flasche hinter dem Marmeladenregal deponiert. Nur ein Schlückchen. Aus den Boxen säuselten Geigen ,Leise rieselt der Schnee’. Bis zum Ende seines Lebens würde er Weihnachtslieder
Weitere Kostenlose Bücher