Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
hatten im Laufe der Zeit ganze Familien ihre letzte Ruhestätte gefunden. Ihre Namen waren in schweren Granit eingemeißelt. Der zweite Hügel war für die neueren Gräber bestimmt, und während in Mississippi die Jahre vergingen, waren die Grabsteine immer kleiner geworden. Stattliche Eichen und Ulmen beschatteten den größten Teil des Friedhofs. Die Rasenflächen waren kurz gemäht, die Sträucher säuberlich beschnitten. In jeder Ecke standen Azaleen. Clanton legte großen Wert auf seine Erinnerungen.
    Es war ein wunderschöner Samstag, ohne Wolken und mit einer leichten Brise, die in der Nacht eingesetzt und die Feuchtigkeit vertrieben hatte. Der Regen hatte für eine Weile ausgesetzt, und an den Abhängen wuchsen üppiges Gras und Wildblumen. Lee kniete vor dem Grabstein ihrer Mutter und legte einen kleinen Blumenstrauß unter ihren Namen. Sie schloß die Augen, während Adam hinter ihr stand und das Grab betrachtete. Anna Gates Cayhall, 3. September 1922-18. September 1977. Sie war fünfundfünfzig gewesen, als sie starb, rechnete Adam nach. Er war damals dreizehn gewesen und hatte, immer noch in gnädiger Unwissenheit, irgendwo im Süden von Kalifornien gelebt.
    Sie war allein begraben worden, unter einem Einzelgrabstein, und schon das hatte einige Probleme aufgeworfen. Alte Ehepaare werden in der Regel Seite an Seite beigesetzt, zumindest im Süden, wobei derjenige, der zuerst stirbt, den ersten Platz unter einem Doppelgrabstein erhält. Bei jedem Friedhofsbesuch sieht der oder die Überlebende seinen oder ihren Namen, der bereits eingemeißelt ist und nur noch auf seinen Besitzer wartet.
    »Daddy war sechsundfünfzig, als Mutter starb«, erklärte Lee, als sie Adams Hand ergriff und von dem Grab zurücktrat. »Ich wollte, daß er sie auf einer Grabstelle beisetzen ließ, wo er sich eines Tages zu ihr gesellen konnte, aber er weigerte sich. Vielleicht glaubte er, daß er noch etliche Jahre vor sich hatte und vielleicht wieder heiraten würde.«
    »Du hast mir einmal erzählt, daß sie Sam nicht mochte.«
    »Ich bin sicher, daß sie ihn irgendwie geliebt hat, schließlich waren sie fast vierzig Jahre beisammen. Aber sie haben sich nie sehr nahegestanden. Als ich älter wurde, spürte ich, daß sie nicht gern in seiner Nähe war. Manchmal hat sie sich mir anvertraut. Sie war ein einfaches Mädchen vom Lande, das jung heiratete, Kinder bekam und bei ihnen blieb, und von dem man erwartete, daß es seinem Ehemann gehorchte. Das war zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches. Ich glaube, sie war eine sehr frustrierte Frau.«
    »Vielleicht wollte sie Sam nicht in alle Ewigkeit neben sich haben.«
    »Darüber habe ich auch nachgedacht. Eddie wollte sogar, daß sie getrennt und an entgegengesetzten Enden des Friedhofs beigesetzt würden.«
    »Das spricht für Eddie.«
    »Und er hat es völlig ernst gemeint.«
    »Was hat sie über Sam und den Klan gewußt?«
    »Ich habe keine Ahnung. Darüber redeten wir nicht. Ich erinnere mich, daß seine Verhaftung ihr schwer zu schaffen gemacht hat. Sie lebte sogar eine Weile bei Eddie und euch, weil die Reporter ihr keine Ruhe ließen.«
    »Und sie war bei keinem seiner Prozesse.«
    »Nein. Er wollte es nich. Sie hatte Probleme mit zu hohem Blutdruck, und Sam benutzte das als Vorwand, um sie fernzuhalten.«
    Sie bogen ab und wanderten auf einem schmalen Weg durch den alten Teil des Friedhofes. Sie hielten sich bei den Händen und betrachteten die Grabsteine, an denen sie Vorüberkamen. Lee deutete auf eine Baumreihe auf einem anderen Hügel jenseits der Straße. »Da drüben werden die Schwarzen begraben«, sagte sie. »Unter den Bäumen dort. Es ist ein kleiner Friedhof.«
    »Soll das ein Witz sein? Sogar heute noch?«
    »Natürlich. Sie müssen immer dort bleiben, wo sie hingehören. Diese Leute könnten den Gedanken, daß zwischen ihren Vorfahren ein Neger liegt, einfach nicht ertragen.«
    Adam schüttelte ungläubig den Kopf. Sie erstiegen den Hügel und ruhten sich unter einer Eiche aus. Unter ihnen breiteten sich friedlich die Grabreihen. Ein paar Blocks entfernt funkelte die Kuppel des Gerichtsgebäudes von Ford County in der Sonne.
    »Als kleines Mädchen habe ich hier gespielt«, sagte sie leise. Sie deutete nach rechts, nach Norden. »Jeder vierte Juli wird hier mit einem Feuerwerk gefeiert, und von diesem Friedhof hier hat man die beste Aussicht. Da unten ist ein Park, von dort werden die Raketen abgefeuert. Wir nahmen unsere Fahrräder mit und kamen in die Stadt, um uns die

Weitere Kostenlose Bücher