Die Kammer
Parade anzusehen und im Stadtbad zu schwimmen und mit unseren Freunden zu spielen. Und nach Einbruch der Dunkelheit haben wir uns hier versammelt, mitten zwischen den Toten, und uns auf die Grabsteine gesetzt, um uns das Feuerwerk anzusehen. Die Männer blieben bei ihren Lastern, auf denen sie ihr Bier und ihren Whiskey versteckt hatten, und die Frauen lagen auf Decken und kümmerten sich um ihre kleinen Kinder. Wir liefen und fuhren überall herum.«
»Eddie auch?«
»Natürlich. Eddie war ein ganz normaler kleiner Bruder, manchmal eine verdammte Nervensäge, aber ein richtiger Junge. Er fehlt mir. Er fehlt mir sehr. Wir haben uns über viele Jahre hinweg nicht nahegestanden, aber wenn ich hierher zurückkomme, denke ich immer an meinen kleinen Bruder.«
»Mir fehlt er auch.«
»Am Abend seines High-School-Abschlusses haben wir uns hier getroffen, er und ich, genau an dieser Stelle. Ich war zwei Jahre in Nashville gewesen, und ich war zurückgekommen, weil er wollte, daß ich bei seiner Schulentlassung dabei war. Wir hatten eine Fla sche billigen Wein, und ich glaube, es war sein erster Alkohol. Ich werde das nie vergessen. Wir saßen hier auf Emil Jacobs Grabstein und tranken Wein, bis die Flasche leer war.«
»Wann war das?«
»Neunzehnhunderteinundsechzig, glaube ich. Er wollte in die Armee eintreten, damit er Clanton verlassen konnte und von Sam wegkam. Ich wollte nicht, daß mein kleiner Bruder zur Armee ging, und wir haben darüber diskutiert, bis die Sonne aufging.«
»Er war ziemlich durcheinander?«
»Er war achtzehn und vermutlich so durcheinander wie die meisten Jungen, die gerade die High-School hinter sich haben. Eddie hatte eine fürchterliche Angst, daß etwas mit ihm passieren würde, wenn er in Clanton blieb. Daß irgendein mysteriöser genetischer Defekt an die Oberfläche kommen und er so wie Sam werden könnte. Noch ein Cayhall mit Kapuze. Er wollte unbedingt so schnell wie möglich von hier weg.«
»Aber du bist auch abgehauen, sobald du konntest.«
»Ich weiß, aber ich war zäher als Eddie, jedenfalls im Alter von achtzehn. Ich konnte es einfach nicht mit ansehen, daß er schon in so jungen Jahren von zu Hause fortging. Also tranken wir Wein und versuchten, das Leben in den Griff zu bekommen.«
»Hat mein Vater sein Leben je in den Griff bekommen?«
»Ich bezweifle es. Wir haben beide schwer unter unserem Vater und dem Haß seiner Familie gelitten. Es gibt Dinge, von denen du hoffentlich nie erfahren wirst, Geschichten, bei denen ich darum bete, daß sie unerzählt bleiben. Ich glaube, ich habe sie verdrängt, aber Eddie konnte das nicht.«
Sie ergriff wieder seine Hand, und sie schlenderten ins Sonnenlicht und einen Weg hinunter zum neueren Teil des Friedhofs. Sie blieb stehen und deutete auf eine Reihe von kleinen Grabsteinen. »Hier liegen deine Urgroßeltern, zusammen mit Tanten und Onkeln und diversen anderen Cayhalls.«
Adam zählte acht Grabsteine. Er las die Namen und Daten und rezitierte laut die in den Granit eingravierten Verse und Bibelstellen.
»Es gibt noch eine Menge mehr draußen im Lande«, sagte Lee. »Die meisten Cayhalls stammten aus der Gegend um Karaway, fünfzehn Meilen von hier entfernt. Sie waren Farmersleute und wurden hinter Dorfkirchen begraben.«
»Bist du zu diesen Begräbnissen hergekommen?«
»Zu einigen. Es ist keine sehr enge Familie, Adam. Einige dieser Leute waren schon jahrelang tot, als ich das erstemal von ihnen hörte.«
»Weshalb ist deine Mutter nicht auch hier beigesetzt worden?«
»Weil sie es nicht wollte. Sie wußte, daß sie bald sterben mußte, und sie hat sich die Grabstelle selber ausgesucht. Sie hat sich nie als eine Cayhall gefühlt. Sie war eine Gates.«
»Kluge Frau.«
Lee zupfte eine Handvoll Unkraut aus dem Grab ihrer Großmutter und rieb mit den Fingern über den Namen von Lydia Newsome Cayhall, die 1961 im Alter von zweiundsiebzig Jahren gestorben war. »Ich kann mich noch gut an sie erinnern«, sagte sie, auf dem Gras kniend. »Eine gute, christliche Frau. Sie würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüßte, daß ihr dritter Sohn in der Todeszelle sitzt.«
»Und was ist mit ihm?« fragte Adam und deutete auf das Grab von Lydias Ehemann, Nathaniel Lucas Cayhall, 1952 im Alter von vierundsechzig Jahren gestorben. Der liebevolle Ausdruck verschwand aus Lees Gesicht. »Ein gemeiner alter Mann«, sagte sie. »Ich bin sicher, er wäre stolz auf Sam. Nat, wie man ihn nannte, wurde bei einer Beerdigung
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