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Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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hob Joes Schrotflinte auf, dann ging er mit beiden Flinten ins Haus.«
    Sie stand langsam auf und tat mehrere vorsichtige Schritte. »Quince und Joe waren ungefähr hier«, sagte sie, die Stelle mit ihrem Absatz markierend. »Quince drückte den Kopf seines Vaters gegen seinen Bauch, überall war Blut, und er gab dieses seltsame, stöhnende Geräusch von sich, das sich anhörte wie das Wimmern eines sterbenden Tieres.« Sie drehte sich um und schaute zu dem Baum hinüber. »Und da war ich, saß dort oben wie ein kleiner Vogel und weinte auch, weil ich in diesem Moment meinen Vater so sehr haßte.«
    »Wo war Eddie?«
    »Im Haus, in seinem Zimmer, hinter verschlossener Tür.« Sie deutete auf ein Fenster mit zerbrochenen Scheiben und einem fehlenden Laden. »Das war sein Zimmer. Später hat er mir erzählt, daß er herausgeschaut hat, als er den Schuß hörte, und sah, wie Quince seinen Vater umklammerte. Nur Minuten später kam Ruby Lincoln angerannt, gefolgt von ihren sämtlichen Kindern. Sie alle brachen um Quince und Joe herum zusammen, und es war grauenhaft. Alle kreischten und weinten und riefen Joe zu, er sollte aufstehen, er sollte doch bitte nicht sterben und sie allein lassen.
    Sam ging hinein und rief eine Ambulanz. Außerdem rief er einen seiner Brüder an, Albert, und ein paar Nachbarn. Bald wimmelte es im Garten von Leuten. Sam und seine Kumpel standen mit ihren Waffen auf der Veranda und beobachteten die Trauernden, die die Leiche unter den Baum dort trugen.« Sie deutete auf eine große Eiche. »Nach einer halben Ewigkeit erschien die Ambulanz und schaffte den Toten fort. Ruby und ihre Kinder kehrten in ihr Haus zurück, und mein Vater und seine Kumpel lachten auf der Veranda.«
    »Wie lange bist du auf dem Baum geblieben?«
    »Ich weiß es nicht. Sobald alle weg waren, bin ich heruntergeklettert und in den Wald gelaufen. Eddie und ich hatten einen Lieblingsplatz an einem Bach, und ich wußte, daß er kommen und dort nach mir suchen würde. Er kam tatsächlich. Er war verängstigt und außer Atem; er erzählte mir, was passiert war, und ich sagte ihm, daß ich alles mit angesehen hätte. Zuerst wollte er mir nicht glauben, aber ich lieferte ihm die Details. Wir waren beide zu Tode verängstigt. Er griff in die Tasche und holte etwas heraus. Es war der kleine Konföderierten-Soldat, über den er und Quince sich in die Haare geraten waren. Er hatte ihn unter seinem Bett gefunden, und deshalb kam er unverzüglich zu dem Schluß, daß alles nur seine Schuld war. Wir gelobten beide Verschwiegenheit. Er versprach, daß er nie jemandem erzählen würde, daß ich den Mord mit angesehen hatte, und ich versprach, daß ich nie jemandem erzählen würde, daß er den Soldaten gefunden hatte. Er warf ihn in den Bach.«
    »Hat einer von euch je etwas verraten?« Sie schüttelte lange den Kopf.
    »Sam hat nie erfahren, daß du auf dem Baum warst?« fragte Adam.
    »Nein. Ich habe es auch meiner Mutter nie erzählt. Eddie und ich haben gelegentlich darüber gesprochen, und im Laufe der Jahre haben wir es irgendwo in uns vergraben. Als wir ins Haus zurückkehrten, steckten unsere Eltern mitten in einem heftigen Streit. Sie war hysterisch, und er war völlig übergeschnappt. Ich glaube, er hat sie ein paarmal geschlagen. Sie packte uns und befahl uns, in den Wagen zu steigen. Als wir auf dem Kiesweg zurücksetzten, kam der Sheriff an. Wir fuhren eine Weile herum, Mutter am Lenkrad und Eddie und ich auf den Rücksitzen, beide zu verängstigt, um zu reden. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Wir waren sicher, daß er ins Gefängnis gesteckt werden würde, aber als wir zurückkehrten, saß er auf der Vorderveranda, als wäre nichts passiert.«
    »Was hat der Sheriff getan?«
    »Im Grunde gar nichts. Er und Sam haben sich eine Weile unterhalten. Sam zeigte ihm Joes Schrotflinte und erklärte, es wäre ein simpler Fall von Notwehr gewesen. Nur ein toter Nigger.«
    »Er wurde nicht verhaftet?«
    »Nein. Das war Mississippi zu Anfang der fünfziger Jahre. Ich bin sicher, daß der Sheriff darüber gelacht, Sam auf den Rücken geklopft, ihm gesagt hat, er sollte immer schön brav sein, und dann wieder abgefahren ist. Er erlaubte Sam sogar, Joes Schrotflinte zu behalten.«
    »Das ist ja unglaublich.«
    »Wir hatten gehofft, daß er für ein paar Jahre ins Gefängnis müßte.«
    »Was haben die Lincolns unternommen?«
    »Was konnten sie schon unternehmen? Wer hätte sie angehört? Sam verbot Eddie, Quince zu sehen, und um

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