Die Kammer
merkwürdigerweise in viel besserem Zustand befand als das Haus. »Das war mein Baum«, sagte sie und schaute zu den Ästen empor. »Mein eigener Hickorybaum.« In ihrer Stimme lag ein leichtes Beben.
»Es ist ein prachtvoller Baum.«
»Herrlich zum Klettern. Ich habe Stunden dort oben verbracht, habe auf diesen Ästen gesessen, die Füße baumeln lassen und mein Kinn auf einen Zweig gelegt. Im Frühling und Sommer bin ich immer bis auf ungefähr halbe Höhe hinaufgeklettert, und niemand konnte mich sehen. Ich hatte meine eigene kleine Welt da oben.«
Plötzlich schloß sie die Augen und bedeckte ihren Mund mit einer Hand. Ihre Schultern zitterten. Adam legte den Arm um sie und versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, das er sagen konnte.
»Da ist es passiert«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. Sie biß sich auf die Lippen und kämpfte gegen Tränen an. Adam sagte nichts.
»Du hast mich einmal gebeten, dir eine Geschichte zu erzählen«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während sie sich mit dem Handrücken das Gesicht abwischte. »Die Geschichte, wie Daddy einen Schwarzen umgebracht hat.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das Haus. Ihre Hände zitterten heftig, sie steckte sie in die Hosentaschen.
Eine Minute verging, während der sie das Haus betrachteten und keiner von ihnen etwas sagte. Die einzige Hintertür führte auf eine kleine, rechteckige Veranda, die von einem Geländer umgeben war. Eine leichte Brise ließ die Blätter über ihnen rauschen. Sonst war nichts zu hören.
Sie holte tief Luft, dann sagte sie: »Er hieß Joe Lincoln, und er lebte mit seiner Familie dort drüben.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die Überreste eines Feldweges, der am Rande eines Feldes entlang verlief und dann zwischen den Bäumen verschwand. »Er hatte ungefähr ein Dutzend Kinder.«
»Quince Lincoln?« fragte Adam.
»Ja. Woher weißt du das?«
»Sam erwähnte neulich seinen Namen, als wir uns über Eddie unterhielten. Er sagte, Quince und Eddie wären als Kinder gute Freunde gewesen.«
»Aber über den Vater von Quince hat er nichts gesagt, oder?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir. Joe arbeitete hier auf der Farm für uns, und seine Familie lebte in einem kleinen Haus, das gleichfalls uns gehörte. Er war ein guter Mann mit einer großen Familie, und wie die meisten armen Schwarzen in jener Zeit konnten sie mit knapper Not überleben. Ich kannte etliche von seinen Kindern, aber wir waren keine dicken Freunde wie Quince und Eddie. Eines Tages spielten die Jungen hier im Garten, es war Sommer, und wir hatten Schulferien. Sie gerieten in Streit über ein kleines Spielzeug, einen Soldaten der Konföderierten, und Eddie beschuldigte Quince, er hätte ihn gestohlen. Typischer Jungskram, mehr nicht. Ich glaube, sie waren acht oder neun Jahre alt. Daddy kam zufällig vorbei, da drüben, und Eddie lief zu ihm und sagte, Quince hätte den Soldaten gestohlen. Quince stritt es nachdrücklich ab. Beide Jungen waren ziemlich aufgeregt und den Tränen nahe. Sam bekam, was typisch für ihn war, einen Wutanfall und beschimpfte Quince, warf ihm alles mögliche an den Kopf und nannte ihn einen ›diebischen kleinen Nigger‹ und ein ›elendes kleines Niggerschwein‹. Sam verlangte den Soldaten, und Quince fing an zu weinen. Er sagte immer wieder, er hätte ihn nicht, und Eddie sagte immer wieder, er hätte ihn doch. Sam packte den Jungen, schüttelte ihn richtig grob und schlug ihn auf den Hintern. Sam brüllte und kreischte und fluchte, und Quince weinte und flehte. Sie machten ein paarmal die Runde durch den Garten, wobei Sam ihn immer wieder erwischte, ihn schüttelte und schlug. Quince riß sich schließlich los und rannte nach Hause. Eddie lief in unser Haus, und Daddy folgte ihm. Einen Augenblick später kam Sam zu dieser Tür dort wieder heraus, mit einem Spazierstock, den er auf die Veranda legte. Dann setzte er sich auf die Stufen und wartete geduldig. Er rauchte eine Zigarette und beobachtete den Feldweg. Das Haus der Lincolns war nicht weit entfernt, und nur ein paar Minuten später kam Joe zwischen den Bäumen herausgerannt, mit Quince dicht hinter sich. Als er näher an das Haus herangekommen war, sah er, daß Daddy auf ihn wartete, und verlangsamte seine Schritte. Sam brüllte über die Schulter: »Eddie! Komm her! Sieh zu, wie ich diesen Nigger fertigmache!«
Sie ging sehr langsam auf das Haus zu und blieb dann ein paar Schritte vor der Veranda stehen. »Als Joe ungefähr an dieser
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