Die Kammer
lag auf dem Tresen, unangerührt und immer noch behauptend, sie läge mit einer Grippe im Bett. Er wanderte in der Wohnung herum und sah keinerlei Anzeichen für irgendwelche Aktivitäten im Laufe des Tages.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand einen Spaltbreit offen.
Er klopfte kurz an und stieß sie auf. »Lee?« rief er leise in die Dunkelheit. »Lee, ist alles in Ordnung?«
Er hörte Bewegung im Bett, konnte aber nichts sehen. »Ja«, sagte sie. »Komm herein.«
Adam setzte sich langsam auf die Bettkante und versuchte, sie in der Dunkelheit zu erkennen. Der schwache Schein der Flurbeleuchtung war das einzige Licht im Raum. Sie schob sich hoch und stützte sich auf die Kissen. »Es geht mir besser«, sagte sie mit kratziger Stimme. »Und du?«
»Mir geht es gut, Lee. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Das geht vorüber. Nur ein bösartiger kleiner Virus.« Aus den Laken und Bezügen wehte ihm der Geruch nach schalem Wodka oder Gin oder saurer Maische oder vielleicht auch eine Kombination von allem entgegen. Adam hätte am liebsten geweint. In der Düsternis konnte er ihre Augen nicht sehen, nur den vagen Umriß ihres Gesichts. Sie trug ein dunkles Hemd.
»Was für Medikamente nimmst du?«
»Ich weiß nicht. Irgendwelche Tabletten. Der Doktor hat gesagt, es wird ein paar Tage dauern und dann rasch wieder verschwinden. Es geht mir schon jetzt etwas besser.« Adam setzte zu einer Bemerkung an, daß so was auch nicht oft vorkäme, ein Grippevirus Ende Juli, ließ es dann aber bleiben. »Kannst du etwas essen?«
»Ich habe keinen Appetit.«
»Kann ich irgendwas für dich tun?«
»Nein, nein, schon gut. Wie ist es dir ergangen? Welcher Tag ist heute?«
»Donnerstag.«
»Mir ist zumute, als hätte ich eine Woche in einer Höhle verbracht.«
Adam hatte zwei Möglichkeiten. Er konnte mitspielen, auf die Geschichte von dem bösartigen kleinen Virus eingehen und hoffen, daß sie mit dem Trinken aufhörte, bevor es noch schlimmer wurde. Oder er konnte sie jetzt zur Rede stellen und ihr klarmachen, daß sie ihn nicht täuschen konnte. Vielleicht würden sie streiten, und vielleicht war das genau das, was man mit Trinkern tun mußte, die rückfällig geworden waren. Woher sollte er wissen, was das richtige war?
»Weiß dein Arzt, daß du trinkst?« fragte er und hielt den Atem an.
Es trat eine lange Pause ein. »Ich habe nicht getrunken«, sagte sie fast unhörbar.
»Versuch nicht, mir etwas vorzumachen, Lee. Ich habe die Wodkaflasche im Mülleimer gefunden. Ich weiß, daß die restlichen drei Flaschen Bier vorigen Samstag verschwunden sind. Und im Augenblick riechst du wie eine ganze Brauerei. Du kannst hier niemanden täuschen, Lee. Du trinkst gewaltig, und ich möchte dir helfen.«
Sie setzte sich gerader hin und zog die Beine bis zur Brust hoch. Dann schwieg sie lange. Adam betrachtete ihre Silhouette.
Minuten vergingen. In der Wohnung herrschte Totenstille. »Wie geht es meinem lieben Vater?« murmelte sie. Ihre Worte waren verschliffen, aber trotzdem bitter.
»Ich war heute nicht bei ihm.«
»Glaubst du nicht, daß wir besser dran sein werden, wenn er tot ist?«
Adam betrachtete ihre Silhouette. »Nein, Lee. Das glaube ich nicht. Du etwa?«
Mindestens eine Minute lang schwieg sie und rührte sich nicht. »Er tut dir leid, stimmt's?«
»Ja.«
»Ist er bemitleidenswert?«
»Ja, das ist er.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist ein alter Mann mit grauem Haar, das immer fettig und nach hinten gekämmt ist. Er hat einen kurzen grauen Bart. Viele Falten im Gesicht. Seine Haut ist sehr blaß.«
»Was hat er an?«
»Einen roten Overall. Alle Insassen des Todestraktes müssen das tragen.«
Eine weitere lange Pause, während sie über das Gehörte nachdachte. Dann sagte sie: »Ich nehme an, es ist leicht, ihn zu bedauern.«
»Für mich ist es das.«
»Aber ich habe ihn nie so gesehen, wie du ihn jetzt siehst. Ich habe einen ganz anderen Menschen gesehen.«
»Und was hast du gesehen?«
Sie rückte die Bettdecke um ihre Beine zurecht, dann saß sie wieder bewegungslos da. »Mein Vater war ein Mensch, den ich verachtete.«
»Verachtest du ihn immer noch?«
»Ja. Sehr sogar. Ich finde, er sollte sterben. Er hat es verdient.«
»Womit hat er es verdient?«
Diese Frage löste ein weiteres Schweigen aus. Sie bewegte sich ein wenig nach links und griff nach einem Glas oder einer Tasse auf ihrem Nachttisch. Sie trank langsam, und Adam beobachtete ihren Schatten. Er fragte nicht, was sie trank. »Redet er mit
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