Die Kammer
Hand. Ich dachte, du wolltestes vielleicht sehen.«
»Nein. Ich will es nicht sehen.«
»Du wolltest doch alles über die Familie wissen. Also bitte, da hast du sie. Großvater, Urgroßvater und alle möglichen anderen Cayhalls von ihrer allerbesten Seite. Auf frischer Tat ertappt und gewaltig stolz darauf.«
»Hör auf, Lee.«
»Es gab noch andere Lynchmorde.«
»Hör auf, Lee. Bitte. Ich will nichts mehr hören.« Sie lehnte sich zur Seite und griff nach dem Nachttisch. »Was trinkst du, Lee?«
»Hustensirup.«
»Quatsch!« Adam sprang auf und ging durch die Dunkelheit zum Nachttisch. Lee kippte rasch den Rest der Flüssigkeit in sich hinein. Er riß ihr das Glas aus der Hand und roch daran. »Es ist Bourbon.«
»In der Speisekammer ist noch mehr davon. Würdest du ihn mir holen?«
»Nein! Du hast schon mehr als genug gehabt.«
»Wenn ich ihn will, dann bekomme ich ihn auch.«
»Das wirst du nicht, Lee. Heute nacht wirst du nichts mehr trinken. Morgen gehe ich mit dir zum Arzt, und wir sorgen dafür, daß dir geholfen wird.«
»Ich brauche keine Hilfe. Ich brauche eine Pistole.« Adam stellte das Glas auf die Kommode und schaltete eine Lampe ein.
Sie schirmte ein paar Sekunden lang die Augen ab, dann sah sie ihn an. Sie waren rot und verquollen. Ihr Haar war zerwühlt, schmutzig und ungekämmt.
»Kein hübscher Anblick, was?« murmelte sie und wandte den Blick ab.
»Nein. Aber wir werden Hilfe suchen. Gleich morgen früh.«
»Hol mir einen Drink, Adam. Bitte.«
»Nein.«
»Dann laß mich in Ruhe. Das alles ist deine Schuld. Und jetzt geh, bitte. Geh zu Bett.«
Adam griff sich ein Kissen aus der Mitte des Bettes und warf es vor die Tür. »Ich schlafe heute nacht hier«, sagte er und deutete auf das Kissen. »Ich schließe die Tür ab, und du wirst dieses Zimmer nicht verlassen.«
Sie funkelte ihn an, sagte aber nichts. Er schaltete die Lampe aus, und das Zimmer war wieder dunkel. Er drückte auf den Knopf, der die Tür verriegelte, und legte sich vor der Tür auf den Teppich. »So, und nun schlaf es weg, Lee.«
»Geh ins Bett, Adam. Ich verspreche dir, daß ich das Zimmer nicht verlassen werde.«
»Nein. Du bist betrunken, und ich bleibe hier. Wenn du versuchst, diese Tür zu öffnen, werde ich dich packen und wieder ins Bett befördern.«
»Hört sich romantisch an.«
»Schluß jetzt, Lee. Schlaf.«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Versuch es.«
»Laß mich Cayhall-Geschichen erzählen. Ich weiß noch von etlichen weiteren Lynchmorden.«
»Halt den Mund, Lee!« schrie Adam, und sie war plötzlich still. Das Bett knarrte, als sie sich von einer Seite auf die andere drehte und nach der richtigen Lage suchte. Eine Viertelstunde später trat Ruhe ein. Eine halbe Stunde später wurde der Fußboden unbequem, und nun drehte Adam sich von einer Seite auf die andere.
Der Schlaf kam in kurzen Schüben, unterbrochen von langen Phasen, in denen er zur Decke starrte und sich Sorgen machte über sie und das Fünfte Berufungsgericht. Irgendwann im Laufe der Nacht saß er mit dem Rücken an der Tür da und starrte im Dunkeln in Richtung der Schublade. Lag dieses Buch wirklich darin? Er war versucht, hinüberzuschleichen und es zu holen, um damit ins Badezimmer zu gehen und sich das Foto anzusehen. Aber er konnte nicht riskieren, daß er sie weckte.
Und er wollte es auch nicht sehen.
33
I n der Speisekammer fand er eine Halbliterflasche Bourbon, versteckt hinter einer Packung Salzgebäck, und leerte sie in den Ausguß. Draußen war es noch dunkel; die Sonne würde erst in einer Stunde herauskommen. Er machte sich einen starken Kaffee und trank ihn auf der Couch, während er in Gedanken die Argumente durchging, die er in ein paar Stunden in New Orleans vorbringen würde.
Bei Anbruch der Dämmerung sah er auf der Terrasse noch einmal seine Notizen durch, und um sieben war er in der Küche und machte sich Toast. Keine Spur von Lee. Er wollte keine Konfrontation mit ihr, aber sie war unerläßlich. Es gab Dinge, die er sagen mußte, und sie hatte sich für einiges zu entschuldigen. Er klapperte mit Tellern und Gabeln auf dem Tresen herum. Die Morgennachrichten liefen mit erhöhter Lautstärke.
Aber in ihrem Teil der Wohnung regte sich nichts. Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, drehte er vorsichtig den Knauf an ihrer Tür. Sie war verriegelt. Sie hatte sich in ihrer Höhle eingeschlossen und war dem schmerzhaften Gespräch am Morgen danach aus dem Wege gegangen. Er schrieb ein paar Zeilen und
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