Die Kammer
mein bester Freund bei einem Autounfall ums Leben. Er war sechsundzwanzig, hatte gerade geheiratet und ein Kind bekommen, sein ganzes Leben lag noch vor ihm. Plötzlich war er tot. Ich habe ihn um dreiundvierzig Jahre überlebt. Mein ältester Bruder starb, als er sechsundfünfzig war. Ihn habe ich um dreizehn Jahre überlebt. Ich bin ein alter Mann, Adam. Ein sehr alter Mann. Ich bin müde. Mir ist nach Aufgeben zumute.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Denk doch nur mal an die Vorteile. Du wirst den Druck los. Du bist nicht mehr gezwungen, die ganze nächste Woche wie ein Irrer herumzuhetzen und sinnlose Eingaben zu machen. Du hast nicht das Gefühl, versagt zu haben, wenn es vorbei ist. Ich verbringe meine letzten Tage nicht damit, um ein Wunder zu beten, sondern kann statt dessen meine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Wir können mehr Zeit miteinander verbringen. Es macht eine Menge Menschen glücklich - die Kramers, McAllister, Roxburgh, die achtzig Prozent der Amerikaner, die für die Todesstrafe sind. Es wird ein glorreicher Moment für Gesetz und Ordnung sein. Ich kann mit ein bißchen Würde abtreten, anstatt auszusehen wie ein verzweifelter Mann, der Angst vorm Sterben hat. Der Gedanke hat viel für sich.«
»Was ist mit dir passiert, Sam? Am Samstag warst du doch noch bereit, es mit allem und jedem aufzunehmen.«
»Ich habe das Kämpfen satt. Ich bin ein alter Mann. Ich hatte ein langes Leben. Und was ist, wenn es dir gelingt, meine Haut zu retten? Ich muß hierbleiben, Adam. Du kehrst nach Chicago zurück und vergräbst dich in deine Arbeit. Ich bin sicher, daß du mich besuchen wirst, wann immer du kannst. Wir werden uns Briefe und Karten schreiben. Aber ich muß im Todestrakt leben. Du nicht. Du hast keine Ahnung.«
»Wir geben nicht auf, Sam. Noch haben wir eine Chance.«
»Das hast nicht du zu entscheiden.« Er hatte sein zweites Eis aufgegessen und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
»So gefällst du mir nicht, Sam. Du gefällst mir wesentlich besser, wenn du wütend und aufgebracht bist und kämpfst.«
»Ich bin müde, verstehst du das nicht?«
»Du kannst nicht zulassen, daß sie dich töten. Du mußt bis zum Ende kämpfen, Sam.«
»Weshalb?«
»Weil es ein Unrecht ist. Es ist unmoralisch vom Staat, wenn er dich tötet, und deshalb dürfen wir nicht aufgeben.«
»Aber wir werden verlieren.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber du hast fast zehn Jahre lang gekämpft. Weshalb willst du jetzt eine Woche vor dem Ende aufgeben?«
»Weil es vorbei ist, Adam. Diese Sache ist an ihrem Endpunkt angekommen.«
»Mag sein, aber wir dürfen nicht aufgeben. Bitte, wirf jetzt nicht das Handtuch. Schließlich mache ich Fortschr itte. Ich habe diesen Typen Beine gemacht.«
Sam brachte ein leises Lächeln und einen gönnerhaften Blick zustande.
Adam rückte näher heran und legte die Hand auf Sams Arm. »Ich habe mir mehrere neue Strategien ausgedacht«, sagte er eindringlich. »Schon morgen kommt ein Experte, um dich zu untersuchen.«
Sam sah ihn an. »Was für ein Experte?«
»Ein Psychiater.«
»Ein Psychiater?«
»Ja. Aus Chicago.«
»Ich habe schon mit so einer Psychotante geredet. Es ist nicht gut gelaufen.«
»Dieser Mann ist anders. Er arbeitet für uns, und er wird sagen, daß du deine geistigen Fähigkeiten eingebüßt hast.«
»Dann meinst du also, daß ich welche hatte, als ich hierher kam.«
»Ja, das meinen wir in der Tat. Dieser Psychiater wird dich morgen untersuchen, dann wird er rasch eine Expertise schreiben und erklären, daß du senil und geistesgestört bist, ein völliger Idiot, und wer weiß, was er sonst noch behaupten wird.«
»Woher weißt du, daß er das behaupten wird?«
»Weil wir ihn dafür bezahlen, daß er das behauptet.«
»Wer bezahlt ihn?«
»Kravitz & Bane, diese tüchtige jüdisch-amerikanische Anwaltsfirma in Chicago, die du haßt, die sich aber den Arsch aufgerissen hat, um dich am Leben zu erhalten. Es war Goodmans Idee.«
»Muß ein feiner Experte sein.«
»Wir können nicht allzu wählerisch sein zu diesem Zeitpunkt. Er ist schon von einigen anderen Anwälten der Firma in verschiedenen Fällen eingeschaltet worden, und er sagt, was immer wir von ihm verlangen. Spiel einfach den Wunderlichen, wenn du mit ihm redest.«
»Das sollte nicht sonderlich schwierig sein.«
»Erzähl ihm all die Horrorgeschichten über diesen Bau. Sorg dafür, daß es sich grauenhaft und jammervoll anhört.«
»Das ist kein
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