Die Kammer
zwar derart eindringlich, daß es sich anhörte, als wäre Sam bereits tot. Er war höchstwahrscheinlich geistesgestört, obwohl Geistesgestörtheit ein juristischer Ausdruck war, kein medizinischer. Es fiel ihm schwer, selbst die einfachsten Fragen zu beantworten. Was haben Sie zum Frühstück gegessen? Wer hat die Zelle neben Ihnen? Wann ist Ihre Frau gestorben? Wer war Ihr Anwalt beim ersten Prozeß? Und so weiter und so weiter.
Swinn hielt sich sehr sorgfältig den Rücken frei, indem er dem Gericht mehrfach erklärte, zwei Stunden reichten für eine gründliche Diagnose einfach nicht aus. Dazu war mehr Zeit erforderlich.
Seiner Ansicht nach war Sam Cayhall nicht bewußt, daß er sterben sollte; er verstand nicht, weshalb man ihn hinrichten wollte, und er begriff ganz offensichtlich nicht, daß er für ein Verbrechen bestraft wurde. Adam mußte mehrmals die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen, aber Swinn war durchaus überzeugend. Mr. Cayhall war völlig ruhig und gelassen, ohne einen Schimmer von seinem Schicksal, vegetierte einfach in seiner kleinen Zelle dahin. Es war überaus traurig. Einer der schlimmsten Fälle, die ihm je begegnet waren.
Unter anderen Umständen hätte es Adam zutiefst widerstrebt, einen Zeugen zu präsentieren, der so offensichtlich den größten Unsinn von sich gab. Aber in diesem Moment war er mächtig stolz auf diesen bizarren kleinen Mann. Ein Menschenleben stand auf dem Spiel.
Slattery hatte nicht die Absicht, die Aussage von Dr. Swinn zu beschneiden. Der Fall würde unverzüglich vom Fünften Berufungsgericht und vielleicht auch vom Obersten Bundesgericht überprüft werden, und er wollte niemandem eine Chance bieten, ihn zu widerlegen. Goodman hatte das vermutet und Swinn zur Weitschweifigkeit ermahnt. Und deshalb ließ sich Swinn, mit Duldung durch das Gericht, über die wahrscheinlichen Gründe für Sams Probleme aus. Er beschrieb, wie grauenhaft es war, jeden Tag dreiundzwanzig Stunden in einer Zelle verbringen zu müssen; zu wissen, daß die Gaskammer nur einen Steinwurf entfernt ist; jeder Gesellschaft beraubt zu sein, anständigen Essens, Sex, Bewegung, körperlicher Betätigung, frischer Luft. Er hatte viele Insassen von Todeszellen überall im Lande untersucht und kannte ihre Probleme sehr gut. Natürlich war Sam wegen seines fortgeschrittenen Alters ein Sonderfall. Der durchschnittliche Insasse eines Todestraktes ist einunddreißig Jahre alt und hat vier Jahre damit verbracht, auf den Tod zu warten. Sam war sechzig, als er in Parchman eingeliefert wurde. Er war einem solchen Leben körperlich und geistig nicht gewachsen. Eine allmähliche Verschlechterung seines Zustands war die unausweichliche Folge.
Adam verhörte Swinn vierundvierzig Minuten lang, und als ihm die Fragen ausgegangen waren, kehrte er zu seinem Platz zurück. Steve Roxburgh stolzierte zum Podium und musterte Swinn.
Swinn wußte, was kommen würde, und er war nicht im mindesten beunruhigt. Roxburgh begann damit, daß er fragte, wer ihn für seine Dienste bezahlte und wie hoch sein Honorar sei. Swinn sagte, Kravitz & Bane zahlten ihm zweihundert Dollar pro Stunde. Keine Chance. Es waren keine Geschworenen anwesend, und Slattery wußte, daß alle Experten ein Honorar bekamen, sonst würden sie nicht aussagen. Roxburgh versuchte, Swinns berufliche Qualifikationen anzuzweifeln, aber damit erreichte er nichts. Der Mann war ein gut ausgebildeter Psychiater mit langjähriger Berufserfahrung. Also was war dagegen einzuwenden, wenn er vor etlichen Jahren zu dem Schluß gekommen war, daß er als sachverständiger Zeuge mehr Geld verdienen konnte? Das änderte nichts an seinen Qualifikationen. Und Roxburgh hütete sich, mit einem Arzt über medizinische Fragen zu diskutieren.
Die Fragen wurden noch absurder, als Roxburgh sich nach anderen Verfahren erkundigte, in denen Swinn ausgesagt hatte. Da war ein Junge, der in Ohio bei einem Verkehrsunfall verbrannt war, und Swinn hatte die Ansicht geäußert, daß der Junge geistesgestört gewesen war. Kaum eine extreme Ansicht.
»Worauf wollen Sie hinaus?« unterbrach Slattery laut.
Roxburgh warf einen Blick auf seine Notizen, dann sagte er: »Euer Ehren, wir versuchen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu erschüttern.«
»Das weiß ich. Aber so geht es nicht, Mr. Roxburgh. Dem Gericht ist bekannt, daß der Zeuge in zahlreichen Prozessen überall im Lande ausgesagt hat. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Wir versuchen nachzuweisen, daß er bereit ist, ziemlich
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