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Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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stand, und machte sich an die morgendliche Papierarbeit. Er arbeitete seit einundzwanzig Jahren im HST, die letzten sieben davon als Schichtführer. Jeden Morgen war er acht Stunden lang einer von vier Abschnitts-Sergeanten, verantwortlich für vierzehn zum Tode Verurteilte, zwei Wärter und zwei Vertrauenshäftlinge. Er beendete das Ausfüllen der Formulare und schaute auf einem Clipboard nach. Da war eine Nachricht, daß er den Direktor anrufen sollte. Eine weitere Notiz besagte, daß F. M. Dempsey knapp an Herztabletten war und den Arzt sprechen wollte. Alle wollten sie den Arzt sprechen. Seinen dampfend heißen Kaffee trinkend, verließ er das Büro und machte sich zu seiner allmorgendlichen Inspektionsrunde auf. Er überprüfte die Uniformen der beiden Wärter an der Vordertür und wies den jungen Weißen an, sich die Haare schneiden zu lassen.
    Der Hochsicherheitstrakt war kein schlechter Arbeitsplatz. Die Insassen waren in der Regel ruhig und machten keine Schwierigkeiten. Sie verbrachten täglich dreiundzwanzig Stunden allein in ihrer Zelle, voneinander getrennt und deshalb außerstande, irgendeinen Aufruhr anzuzetteln. Sie schliefen sechzehn Stunden am Tag. Sie mußten in ihren Zellen essen. Täglich wurde ihnen eine Stunde im Freien zugestanden, ihre »Draußenstunde«, wie sie es nannten, und wenn sie wollten, konnten sie auch diese Zeit allein verbringen. Jeder hatte entweder einen Fernseher oder ein Radio oder auch beides, und nach dem Frühstück erwachten die vier Abteilungen mit Musik, Nachrichten, Seifenopern und leisen Gesprächen durch die Gitter hindurch zum Leben. Die Insassen konnten ihre Zellennachbarn nicht sehen, aber ohne viel Mühe mit ihnen reden. Gelegentlich gab es Streit über die Lautstärke von irgend jemandes Musik, aber diese kleinen Auseinandersetzungen wurden von den Wärtern schnell geschlichtet. Die Insassen hatten bestimmte Rechte und auch bestimmte Privilegien. Der Entzug eines Fernsehers oder eines Radioapparates war niederschmetternd.
    Der Trakt bewirkte eine merkwürdige Kameradschaft unter den dort einsitzenden Männern. Die eine Hälfte war weiß, die andere schwarz, und alle waren wegen brutaler Morde verurteilt worden. Aber hier spielten frühere Verbrechen und Strafregister kaum eine Rolle, und auch die Hautfarbe war ziemlich unwesentlich. Draußen, unter der normalen Gefängnispopulation, gab es alle möglichen Banden, die es schafften, die Häftlinge bestimmten Gruppen zuzuordnen, zumeist anhand ihrer Rasse. Im Trakt dagegen wurde ein Mann danach beurteilt, wie er mit dem Zellendasein fertig wurde. Ob sie sich mochten oder nicht, sie waren alle zusammen in dieser winzigen Ecke der Welt eingesperrt, warteten alle darauf, daß sie sterben mußten. Es war eine schäbige kleine Bruderschaft aus Unangepaßten, Herumtreibern, Gangstern und kaltblütigen Mördern.
    Und der Tod von einem konnte den Tod aller bedeuten. Die Nachricht von Sams neuerlicher Verurteilung zum Tode wurde in allen Abteilungen durch die Gitterstäbe geflüstert. Als sie am Tag zuvor in den Mittagsnachrichten gebracht worden war, war es im Trakt plötzlich wesentlich stiller geworden. Jeder Insasse wollte plötzlich mit seinem Anwalt sprechen. Man interessierte sich wieder für juristische Probleme, und Packer hatte beobachtet, wie sich mehrere der Insassen bei ausgeschaltetem Fernseher und leise gestelltem Radio eingehend mit ihren Prozeßakten beschäftigten.
    Er schob sich durch eine schwere Tür, trank einen großen Schluck und ging langsam und in aller Ruhe durch den Abschnitt A. Vierzehn identische Zellen, einen Meter achtzig breit und zwei Meter siebzig lang. Die Front jeder Zelle bestand aus einem Eisengitter, so daß die Insassen zu keiner Ze it völlige Abgeschiedenheit genießen konnten. Alles, was er gerade tat schlafen, die Toilette benutzen - konnte von den Wärtern beobachtet werden.
    Sie lagen alle im Bett, als Packer vor jeder der kleinen Zellen stehenblieb und nach einem Kopf unter den Laken Ausschau hielt. Die Zellenbeleuchtung war ausgeschaltet und der Gang dunkel. Der Flurmann, ein Insasse mit speziellen Privilegien, würde sie um fünf wecken. Um sechs gab es Frühstück - Eier, Toast, Marmelade, manchmal Speck, Kaffee und Fruchtsaft. In ein paar Minuten würde der Trakt langsam zum Leben erwachen, wenn siebenundvierzig Männer den Schlaf abschüttelten und zum endlosen Prozeß des Sterbens zurückkehrten. Es passierte langsam, jeweils einen Tag lang, nachdem ein weiterer elender

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