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Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Sonnenaufgang dafür gesorgt hatte, daß sich über ihre kleinen Privatnischen der Hölle eine weitere Hitzedecke legte. Und es passierte schnell, wie zum Beispiel am Vortag, wenn ein Gericht ein Gesuch oder eine Eingabe oder eine Berufung verwarf und erklärte, daß bald eine Hinrichtung stattfinden müßte.
    Packer trank Kaffee und zählte Köpfe und absolvierte in aller Ruhe sein Morgenritual. Normalerweise lief im HST alles wie am Schnürchen, wenn nichts die Routine störte und alles nach Plan verlief. Es gab Unmengen von Vorschriften im Handbuch, aber sie waren fair und leicht zu befolgen. Jedermann kannte sie. Aber für eine Hinrichtung gab es ein spezielles Handbuch mit einer anderen Verfahrensweise und veränderten Richtlinien, die in der Regel die Ruhe im Trakt empfindlich störten. Packer brachte Philip Naifeh sehr viel Respekt entgegen, aber er hatte die verdammte Angewohnheit, das Handbuch vor und nach jeder Hinrichtung umzuschreiben. Es gab eine Menge Druck, damit alles ordentlich und verfassungsgemäß und mitleidsvoll vor sich ging. Keine zwei Hinrichtungen waren auf die gleiche Weise abgelaufen.
    Packer haßte Hinrichtungen. Er glaubte an die Todesstrafe, weil er ein religiöser Mensch war, und wenn Gott sagte, Auge um Auge, dann meinte Gott das auch. Er hätte es jedoch lieber gesehen, wenn sie irgendwoanders von irgendwelchen anderen Leuten vollstreckt werden würden. Glücklicherweise hatte es in Mississippi so selten Hinrichtungen gegeben, daß seine Arbeit reibungslos und fast ohne äußere Einmischungen ablief. In seinen einundzwanzig Jahren hatte er fünfzehn durchgestanden, aber nur vier seit 1982.
    Er sprach leise mit einem Wärter am Ende der Abteilung. Durch die offenen Fenster oberhalb des Flurs fielen die ersten Sonnenstrahlen. Der Tag würde wieder heiß und stickig werden. Außerdem würde er viel stiller werden. Es würde weniger Beschwerden über das Essen geben, weniger Bitten, den Arzt sprechen zu dürfen, vereinzeltes Murren über dieses und jenes, aber aufs Ganze gesehen würden die Männer gefügig und mit sich selbst beschäftigt sein. Es war mindestens ein Jahr her, vielleicht sogar länger, daß ein Aufschub so kurz vor dem Hinrichtungstermin annulliert worden war. Packer lächelte ein wenig, während er nach einem Kopf unter den Laken Ausschau hielt. Dies würde wahrhaftig ein sehr ruhiger Tag werden.
    Während der ersten Monate von Sams Anwesenheit im Trakt hatte Packer ihn ignoriert. Das offizielle Handbuch verbot jeden über das Notwendige hinausgehenden Kontakt mit den Insassen, und Packer hatte festgestellt, daß es ihm nicht schwerfiel, Sam in Ruhe zu lassen. Er gehörte dem Ku-Klux-Klan an. Er haßte Schwarze. Er sagte kaum etwas. Er war verbittert und mißlaunig, vor allem in der ersten Zeit. Aber das ewige Nichtstun, acht Stunden am Tag, schleift allmählich die Kanten ab, und im Laufe der Zeit gelangten sie auf eine Ebene der Kommunikation, die aus einer Handvoll kurzer Worte und Grunzlaute bestand. Nachdem sie sich neuneinhalb Jahre lang täglich gesehen hatten, war Sam gelegentlich sogar imstande, Packer anzulächeln.
    Nach Jahren des Beobachtens war Packer zu dem Schluß gekommen, daß es im HST zwei Typen von Killern gab. Da waren die kaltblütigen Mörder, die es wieder tun würden, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu bot, und da waren diejenigen, die einfach Fehler gemacht hatten und nie auch nur im Traum daran denken würden, noch einmal Blut zu vergießen. Die in der ersten Gruppe sollten schleunigst hingerichtet werden. Die in der zweiten Gruppe bereiteten Packer großes Unbehagen, weil ihre Hinrichtung keinerlei Zweck erfüllte. Die Gesellschaft würde nicht darunter leiden und es nicht einmal zur Kenntnis nehmen, wenn diese Männer aus dem Gefängnis entlassen wurden. Sam gehörte eindeutig der zweiten Gruppe an. Man könnte ihn in sein Haus zurückkehren lassen, wo er bald eines einsamen Todes sterben würde. Nein, Packer lag nichts daran, daß Sam Cayhall hingerichtet wurde.
    Er schlenderte durch den Abschnitt A zurück und schaute in die dunklen Zellen. Seine Abteilung war diejenige, die dem Isolierraum gleich neben dem Kammerraum am nächsten lag. Sam saß in Zelle sechs in Abschnitt A, kaum dreißig Meter von der Gaskammer entfernt. Er hatte vor ein paar Jahren um eine Verlegung gebeten, wegen eines dummen Streits mit Cecil Duff, seinem damaligen Zellennachbarn.
    Jetzt saß Sam im Dunkeln auf der Bettkante. Packer blieb stehen und trat an die

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