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Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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durften, wenn man sie aufeinanderlegte und zusammenpreßte, nicht dicker sein als zwölf Zentimeter. Sams Akte unterschied sich nicht sonderlich von denen der anderen Insassen, und nach neun Jahren juristischer Kriegführung füllte sie einen großen Pappkarton. Wie zum Teufel sollte er angesichts von Beschränkungen wie der Zwölf-Zentimeter-Vorschrift recherchieren und studieren und sich vorbereiten?
    Packer war mehrmals mit einem Zollstock in seiner Zelle erschienen, den er wie einen Dirigentenstab geschwenkt und dann an die Papiere gehalten hatte. Jedesmal hatte Sam zuviel gehabt; einmal hatte man ihn, Packers Messung zufolge, mit einem Zuviel von zweiundfünfzig Zentimetern erwischt. Und jedesmal hatte Packer einen Bericht über einen Verstoß gegen die Vorschriften geschrieben, und Sams Gefängnisakte enthielt wieder ein Blatt Papier mehr. Sam fragte sich oft, ob seine Akte in der Hauptverwaltung dicker war als zwölf Zentimeter. Er hoffte es. Und was spielte es schon für eine Rolle? Sie hielten ihn nun seit neuneinhalb Jahren in einem Käfig, einzig und allein zu dem Zweck, ihn am Leben zu erhalten, um es ihm eines Tages zu nehmen. Was sonst konnten sie ihm noch antun?
    Jedesmal hatte Packer ihm vierundzwanzig Stunden gegeben, seine Papiere abzulichten. Gewöhnlich schickte Sam einen Stapel an seinen Bruder in North Carolina. Ein paarmal hatte er widerwillig auch ein Päckchen an E. Garner Goodman geschickt.
    Zur Zeit hatte er ungefähr dreißig Zentimeter zuviel. Außerdem hatte er eine dünne Akte mit neueren Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs unter der Matratze. Und er hatte fünf Zentimeter nebenan, wo Hank Henshaw sie auf dem Bücherregal bewachte. Und er hatte ungefähr acht Zentimeter nebenan in J. B. Gullitts Stapel von Papieren. Sam begutachtete sämtliche Dokumente und Briefe für Henshaw und Gullitt. Henshaw hatte einen guten Anwalt, für den die Familie zahlte. Gullitt hatte einen Idioten von einer großen Firma in Washington, der noch nie einen Gerichtssaal von innen gesehen hatte.
    Die Drei-Bücher-Vorschrift war eine weitere unverständliche Beschränkung dessen, was ein Mann in seiner Zelle haben durfte. Die Vorschrift besagte schlicht und einfach, daß ein Insasse einer Todeszelle nicht mehr als drei Bücher haben durfte. Sam besaß fünfzehn, sechs in seiner Zelle, neun weitere hatte er bei seinen Mandanten im Trakt untergebracht. Für schöne Literatur hatte er keine Zeit. Seine Sammlung bestand ausschließlich aus juristischen Werken über die Todesstrafe und den Achten Verfassungszusatz.
    Er hatte ein Abendessen aus gekochtem Schweinefleisch, Bohnen und Maisbrot verzehrt und las jetzt eine Entscheidung des Neunten Berufungsgerichts in Kalifornien über einen Verurteilten, der seinem Tod so gelassen entgegengesehen hatte, daß seine Anwälte zu dem Schluß gelangten, er müßte verrückt sein. Also reichten sie eine Reihe von Anträgen ein, in denen sie erklärten, ihr Mandant wäre zu verrückt, als daß man ihn hinrichten könnte. Im Neunten Berufungsgericht saß ein Haufen kalifornischer Liberaler, die gegen die Todesstrafe waren und sich auf dieses neuartige Argument stürzten. Die Hinrichtung wurde aufgeschoben. Sam mochte diesen Fall. Er hatte sich viele Male gewünscht, er hätte es mit dem Neunten Berufungsgericht zu tun anstatt mit dem Fünften.
    Gullitt nebenan sagte: »Ich hab' was für dich, Sam«, und Sam trat an das Gitter. Mehrere Zellen voneinander entfernte Insassen konnten nur über Kassiber miteinander in Verbindung treten. Gullitt reichte ihm den Zettel. Er kam von Preacher Boy, einem sieben Zellen weiter sitzenden jungen Weißen. Im Alter von vierzehn Jahren war er Landprediger geworden, ein hitziger Verkünder von Höllenfeuer und Schwefel, aber mit dieser Laufbahn war Schluß, als er wegen Vergewaltigung und Ermordung der Frau eines Diakons verurteilt wurde. Inzwischen war er vierundzwanzig, saß seit drei Jahren im Todestrakt und war kürzlich voller Inbrunst zum Evangelium zurückgekehrt. Auf dem Zettel stand:
    Lieber Sam,
    ich bin hier und bete für dich. Ich glaube wirklich und wahrhaftig, daß Gott einschreiten und diese Sache aufhalten wird. Aber wenn er es nicht tut, dann bitte ich ihn, daß es schnell geht ohne Schmerzen oder sonst etwas, und daß er dich zu sich nimmt.
    In Liebe, Randy.
    Wie wundervoll, dachte Sam, sie beten bereits, daß ich schnell sterbe, ohne Schmerzen oder sonst etwas. Er setzte sich auf die Bettkante und schrieb eine kurze

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