Die Kampagne
tot war, wenn sie hier blieb. Sie bereitete sich auf den Sprung vor. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie hörte, wie eine weitere Bürotür krachend aufflog. Ein Schrei, ein gedämpfter Schuss, ein Aufprall. Das war der arme Avery. Tot.
Gott, wenn doch nur Shaw hier wäre!
Anna sprach ein stummes Gebet und drückte die Beine durch zum Sprung. Sobald sie in Sicherheit war, würde sie rennen wie noch nie im Leben und Hilfe holen. Doch sie bezweifelte, dass dann noch jemand leben würde. Außer ihr.
Die beiden Kugeln, die durch die Tür gefeuert wurden, trafen Anna in den Rücken, traten an der Brust wieder aus und sirrten durch die frische Londoner Nachmittagsluft. Wie erstarrt hockte Anna auf dem Fenstersims, scheinbar ohne zu merken, dass sie gerade erschossen worden war. Ihr Blut strömte auf den Boden, spritzte gegen den Fensterrahmen und über ihren ganzen Körper. Als ihr Blick sich trübte, wurde der blaue Himmel braun und der kleine Rasen auf der anderen Straßenseite gelb. Anna hörte den Gesang der Vögel nicht mehr und auch nicht die Autos auf der Parallelstraße. Sie packte den Fensterrahmen, doch binnen Sekunden war mit dem Blut auch alle Kraft aus ihrem Körper gewichen.
Anna fiel nicht nach vorne aus dem Fenster, sondern nach hinten ins Büro. Ausgestreckt lag sie da und starrte mit leeren Augen an die Decke.
Die Tür wurde aufgetreten. Zwei Männer kamen herein. Einer von ihnen streifte seine Maske ab, blickte auf Anna und schüttelte den Kopf.
»Das nenne ich einen verdammten Glückstreffer«, sagte er. »Ich wollte eigentlich nur das Schloss aufschießen.«
Der andere Mann nahm ebenfalls seine Maske ab und schaute sich Anna an. »Du meine Güte«, sagte Caesar. »Zwei Schüsse mitten in die Brust, und sie atmet noch ...«
Der andere Mann sagte: »Die hat's gleich hinter sich.«
»Sieh dir das Fenster an. Sie hat versucht zu fliehen.«
Der andere Mann folgte Caesars Blick zu dem zersplitterten Glas.
Caesar zielte sorgfältig auf Anna, deren Brust sich in dem verzweifelten Versuch, sich ans Leben zu klammern, zitternd hob und senkte.
Der Schuss traf sie mitten in die Stirn.
Ihr letzter Atemzug klang wie ein Name. »Shaw.«
Caesar stieß sie mit dem Stiefel an. Es war offensichtlich, dass sie nie mehr als Zeugin würde aussagen können.
Der zweite Mann sprach in ein Funkgerät, hörte kurz zu und nickte dann.
»Alle tot«, meldete er Caesar.
»Alle tot«, wiederholte Caesar. »Die Hacker?«
»Fast fertig.«
»Sag ihnen, sie haben zwei Minuten. Und schick jemanden auf die Straße. Er soll überprüfen, ob jemand die Frau am Fenster bemerkt hat. Falls ja, wissen sie, was zu tun ist. Der Flieger wartet. Wenn sie nicht rechtzeitig da sind, sind sie nicht rechtzeitig da. Los jetzt.«
Caesar und der andere Mann öffneten ihre Rucksäcke und holten Papiere, Charts, Graphen und andere Dokumente heraus und drückten Annas Fingerspitzen darauf, ehe sie alles auf Annas Schreibtisch verteilten.
»Verdammt.« Cesar blickte auf die Papiere, die bereits dort lagen.
»Was ist?«, fragte der andere Mann.
Caesar deutete auf einen von Annas Ausdrucken, der ihr Interesse an der Roten Gefahr dokumentierte.
»Die Frau war anscheinend sehr neugierig«, sagte er. »Aber das passt ja gut.«
Er holte eine Kamera hervor und machte Fotos vom Büro.
Schließlich erhielten die Männer die Meldung, dass niemand Anna am Fenster gesehen habe - auch nicht ihr Blut, das in den kleinen Vorgarten links vom Haupteingang auf die orangefarbenen Lilien getropft war.
Kurz darauf erschien ein dritter Mann. Er setzte sich an Annas Computer und schob eine CD ins Laufwerk. Der Mann tippte so schnell, dass seine behandschuhten Finger kaum zu sehen waren, und die Tastatur ratterte wie ein Zug auf den Gleisen.
Sechzig Sekunden später holte der Mann die CD wieder heraus. »Download beendet«, sagte er, stand auf und verließ das Büro.
Weitere dreißig Sekunden später gab es im Gebäude der Phoenix Group keinen lebenden Menschen mehr.
Kapitel 41
A ls Staatspräsident Benisti nach einem Vortrag das Ritz in Paris verließ, wurden sechs Männer wegen eines Attentatsversuchs auf ihn verhaftet. In den Nachrichten sprach man von wundersamer Polizeiarbeit, denn die Möchtegernmeuchelmörder, die mit geschickt gefälschten Dokumenten Zugang zu der Veranstaltung erhalten hatten, waren im letzten Moment verhaftet worden, ehe sie Benisti hatten erreichen können. Außerdem war ein Mordanschlag auf Benistis Vater verübt
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