Die Kandidaten
– und seine Zahlen waren nun gezogen
worden. War es moralisch in Ordnung, eine Freistellung vom
Wehrdienst zu beantragen, nur weil er Student war, oder sollte
130
er sich melden und seinem Land dienen, wie es sein alter Herr
1942 getan hatte? Sein Vater hatte zwei Jahre mit der 80.
Division in Europa verbracht, bevor er mit einem Purple Heart
nach Hause zurückgekehrt war. Über fünfundzwanzig Jahre
später vertrat sein Vater ebenso überzeugt die Ansicht, dass
Amerika eine Rolle in Vietnam spielen müsse. Sollte eine solche
Einstellung nur von jenen ungebildeten Amerikanern umgesetzt
werden, die keine andere Wahl hatten?
Nat rief umgehend zu Hause an und war nicht überrascht, als
seine Eltern angesichts dieser Frage in eine ihrer seltenen
Auseinandersetzungen gerieten. Seine Mutter hegte keinerlei
Zweifel daran, dass er erst seinen Abschluss machen und dann
noch einmal darüber nachdenken sollte; bis dahin war der Krieg
vielleicht auch schon vorbei. Hatte Präsident Johnson das
während seines Wahlkampfes nicht versprochen? Sein Vater
vertrat dagegen die Ansicht, es stelle zwar eine etwas
unglückliche Pause dar, aber es sei Nats Pflicht, der Einberufung
Folge zu leisten. Wenn jeder auf die Idee käme, seinen
Einberufungsbescheid
zu
verbrennen,
würde
Anarchie
herrschen. Das war das letzte Wort seines Vaters zu diesem
Thema.
Als Nächstes rief Nat Tom in Yale an und fragte, ob er auch
einen Einberufungsbescheid erhalten hatte.
»Ja, habe ich«, bestätigte Tom.
»Hast du ihn verbrannt?«, wollte Nat wissen.
»Nein, so weit bin ich nicht gegangen, auch wenn ich ein paar
Studenten kenne, die das getan haben.«
»Soll das heißen, dass du dich gemeldet hast?«
»Nein, ich besitze nämlich nicht dein moralisches Rückgrat,
Nat. Ich werde den Rechtsweg einhalten. Mein Vater hat einen
Anwalt in Washington gefunden, der sich auf Freistellungen
spezialisiert hat, und er ist sich ziemlich sicher, dass er meine
131
Einberufung aufschieben kann, zumindest bis nach meinem
Abschluss.«
»Was ist mit diesem Kerl, der bei der Wahl zum
Erstsemestervertreter gegen dich angetreten ist und so
eindringlich für Amerikas Verantwortung gegenüber jenen
eingetreten ist, ›die an der Demokratie teilhaben wollen‹ – wie
hat er sich entschieden?«
»Keine Ahnung«, sagte Tom, »aber wenn sein Name ebenfalls
gezogen wurde, dann triffst du ihn wahrscheinlich ganz vorne an
der Front.«
*
Monat für Monat verging, aber kein brauner Umschlag tauchte
in seinem Brieffach auf. Fletcher glaubte allmählich, dass er
wohl zu jenen Glücklichen gehören musste, deren Name nicht
gezogen wurde. Doch stand sein Entschluss schon fest, wie er
reagieren würde, wenn der schmale, braune Umschlag doch
noch eintreffen sollte.
Als Jimmy seinen Einberufungsbescheid erhielt, besprach er
sich umgehend mit seinem Vater, der ihm riet, eine Freistellung
zu beantragen, solange er noch studierte, mit dem Argument,
dass er willens sei, seine Meinung in drei Jahren zu überdenken.
Er erinnerte Jimmy daran, dass es bis dahin sehr wohl einen
neuen Präsidenten geben mochte, eine neue Gesetzgebung und
die Möglichkeit, dass Amerika nicht länger in Vietnam
mitmischte. Jimmy folgte dem Rat seines Vaters und äußerte
sich unverblümt, als er die moralische Seite dieser
Angelegenheit mit Fletcher diskutierte.
»Ich habe nicht die Absicht, mein Leben gegen eine Horde
132
von Vietcong aufs Spiel zu setzen, die am Ende ja doch dem
Kapitalismus erliegen werden, auch wenn sie kurzfristig nicht
für militärische Überlegenheit empfänglich sind.«
Annie war mit den Ansichten ihres Bruders einig und es
erleichterte sie, dass Fletcher keinen Einberufungsbefehl
erhalten hatte. Sie zweifelte nämlich nicht daran, wie er darauf
reagieren würde.
*
Am 5. Januar 1967 meldete sich Nat bei seiner örtlichen
Wehrpflichtkommission.
Nach einer umfassenden medizinischen Untersuchung wurde
er von einem Major Willis befragt. Der Major hatte den ganzen
Vormittag mit jungen Männern zugebracht, die einhundert
verschiedene Gründe aufführten, warum sie zum Wehrdienst
körperlich nicht in der Lage seien; nun war er beeindruckt:
Cartwrights Tauglichkeit lag bei zweiundneunzig Prozent. Am
Nachmittag unterzog sich Nat dem allgemeinen Einstufungstest
und erzielte siebenundneunzig Punkte.
Am folgenden Abend stieg Nat mit fünfzig anderen
Wehrpflichtigen in einen Bus mit Ziel New Jersey. Während
Weitere Kostenlose Bücher