Die Kandidaten
erst später am Morgen informieren. Es hat
keinen Sinn, sie um diese Uhrzeit zu wecken.«
»Ja, Sir«, entgegnete die Schwester dienstbeflissen.
Dr. Greenwood verließ die Säuglingsstation, ging langsam den
Flur entlang und blieb vor Mrs Cartwrights Tür stehen. Er
öffnete sie lautlos und war erleichtert, als er sah, dass seine
Patientin in tiefem Schlummer lag. Nachdem er die Treppe in
den sechsten Stock hoch gestiegen war, wiederholte er den
Vorgang an der Tür zu Mrs Davenports Privatzimmer. Ruth
schlief ebenfalls. Er sah sich im Zimmer um und entdeckte Miss
Nichol, die eingefallen in ihrem Sessel ruhte. Er hätte schwören
können, dass sie kurz die Augen öffnete, aber er beschloss, sie
nicht zu stören. Er zog die Tür zu, ging zum anderen Ende des
Korridors und trat auf die Feuertreppe, die zum Parkplatz führte.
Er wollte nicht, dass die Diensthabenden an der Empfangstheke
ihn gehen sahen. Er brauchte etwas Zeit zum Nachdenken.
Zwanzig Minuten später lag Dr. Greenwood wieder in seinem
Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken.
Als sein Wecker um sieben Uhr losging, war er immer noch
wach. Er wusste genau, was er als Erstes zu tun hatte, obwohl er
fürchtete, dass die Auswirkungen noch viele Jahre widerhallen
würden.
*
22
Dr. Greenwood brauchte beträchtlich länger, als er an diesem
Morgen zum zweiten Mal nach St Patrick fuhr, und das lag nicht
nur am zunehmenden Verkehr. Es graute ihm davor, Ruth
Davenport mitteilen zu müssen, dass ihr Kind in der Nacht
gestorben war, und er hoffte nur, dass es ohne Skandal über die
Bühne ging. Er wusste, er musste unverzüglich auf Ruths
Zimmer eilen und ihr erklären, was geschehen war, ansonsten
wäre er niemals fähig, die Sache durchzuziehen.
»Guten Morgen, Dr. Greenwood«, sagte die Schwester am
Empfang, aber er erwiderte ihren Gruß nicht.
Als er in den sechsten Stock trat und auf Mrs Davenports
Zimmer zuschritt, merkte er, wie er immer langsamer wurde.
Vor der Tür blieb er stehen, hoffte, sie würde noch schlafen. Er
öffnete sie leise und wurde von dem Anblick von Robert
Davenport begrüßt, der neben seiner Frau saß. Ruth hielt ein
Baby in ihren Armen. Miss Nichol war nirgends zu sehen.
Robert sprang von seiner Seite des Bettes auf.
»Kenneth«, rief er und schüttelte Greenwood die Hand. »Wir
stehen auf ewig in deiner Schuld.«
»Ihr schuldet mir gar nichts«, erwiderte der Arzt leise.
»Natürlich tun wir das«, widersprach Robert und drehte sich
zu seiner Frau. »Sollen wir ihm sagen, welchen Entschluss wir
gefasst haben, Ruth?«
»Warum nicht, dann haben wir alle etwas zu feiern.« Sie
küsste die Stirn des Jungen.
»Aber zuerst muss ich euch etwas mitteilen …«, fing der Arzt
an.
»Kein Aber«, erklärte Robert, »ich will, dass du der Erste bist,
der erfährt, dass ich beschlossen habe, den Vorstand von Preston
zu bitten, die neue Entbindungsstation zu finanzieren. Du hast ja
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immer gehofft, dass sie vor deinem Ruhestand noch fertig
wird.«
»Aber …«, fing Dr. Greenwood erneut an.
»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass es kein Aber
gibt. Schließlich stehen die Pläne schon seit Jahren.« Robert
blickte auf seinen Sohn hinunter. »Ich wüsste keinen Grund,
warum wir nicht sofort mit dem Bau beginnen sollten.« Er sah
den leitenden Gynäkologen der Klinik an. »Es sei denn, dir fiele
einer ein?«
Dr. Greenwood schwieg.
*
Als Miss Nichol sah, wie Dr. Greenwood Mrs Davenports
Privatzimmer verließ, sank ihr der Mut. Er trug den kleinen
Jungen im Arm und ging auf den Aufzug zu, der ihn zur
Säuglingsstation bringen würde. Als sie im Flur aneinander
vorbeikamen, trafen sich ihre Blicke, und obwohl
Dr. Greenwood nichts sagte, zweifelte sie nicht daran, dass er
genau wusste, was sie getan hatte.
Miss Nichol war klar, wenn sie fliehen wollte, dann jetzt.
Nachdem sie das Kind auf die Säuglingsstation zurückgebracht
hatte, hatte sie den Rest der Nacht schlaflos in der Ecke von Mrs
Davenports Zimmer ausgeharrt und sich gefragt, ob man sie
überführen würde. Sie hatte versucht, sich nicht zu rühren, als
Dr. Greenwood vorbeischaute. Sie hatte keine Ahnung, wie spät
es war, denn sie wagte nicht, auf ihre Uhr zu schauen. Eigentlich
hatte sie erwartet, dass er sie aus dem Zimmer rufen und ihr
sagen würde, dass er die Wahrheit kannte, aber er war ebenso
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leise gegangen wie er gekommen war, darum war sie jetzt auch
nicht schlauer.
Heather Nichol
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