Die Kandidaten
Wagen vor ihrem Haus zum Stehen brachte.
»Ihm was sagen?«, fragte Fletcher.
»Dass ich wieder schwanger bin.«
282
*
Nat liebte das Gedränge und den Betrieb in Seoul, einer Stadt,
die fest entschlossen war, alle Erinnerungen an den Krieg hinter
sich zu lassen. Wolkenkratzer erhoben sich an jeder Ecke und
Alt und Neu versuchten, harmonisch zusammenzuleben. Nat
war beeindruckt von dem Potenzial an gebildeten, intelligenten
Arbeitskräften, die von Löhnen lebten, welche nur ein Viertel
von dem ausmachten, was man bei ihm zu Hause für akzeptabel
halten würde. Su Ling fiel dagegen die unterwürfige Rolle auf,
die Frauen in der koreanischen Gesellschaft immer noch
einnahmen, und insgeheim dankte sie ihrer Mutter, dass sie den
Mut und den Weitblick besessen hatte, sich nach Amerika
aufzumachen.
Nat mietete einen Wagen, damit sie von Dorf zu Dorf fahren
konnten. Kaum waren sie ein paar Meilen außerhalb der
Hauptstadt, fiel ihnen sofort auf, wie rasch sich das Leben der
Menschen änderte. Nach weiteren hundert Meilen hatten sie
auch hundert Jahre in der Zeit zurückgelegt. Die modernen
Wolkenkratzer wurden von kleinen Holzhütten ersetzt und das
Gedränge von einem langsameren, bedächtigeren Tempo.
Obwohl ihre Mutter nur selten über ihre Kindheit in Korea
gesprochen hatte, kannte Su Ling das Dorf, in dem sie geboren
worden war – und auch ihren Familiennamen. Sie wusste auch,
dass zwei ihrer Onkel im Krieg gefallen waren. Als sie daher in
Kaping eintrafen – das laut ihrem Reiseführer 7303 Einwohner
zählte –, hatte sie nicht viel Hoffnung, jemanden zu finden, der
sich an ihre Mutter erinnerte.
Su Ling Cartwright begann ihre Suche im Gemeindehaus, wo
ein Personenstandsregister aller Einwohner geführt wurde. Da
283
half es auch nicht, dass von den siebentausend Bewohnern über
tausend denselben Namen trugen: Peng – der Mädchenname von
Su Lings Mutter. Doch auf dem Namensschild auf dem
Schreibtisch der zuständigen Amtsleiterin stand ebenfalls Peng.
Sie erzählte Su Ling, dass ihre Großtante, die über neunzig
Lenze zählte, behauptete, jeden Zweig der Familie zu kennen,
und wenn sie sie treffen wolle, lasse sich das arrangieren. Su
Ling nickte zustimmend und wurde gebeten, im Laufe des Tages
noch einmal vorbeizuschauen.
Als Su Ling am Nachmittag zurückkehrte, wurde ihr gesagt,
dass Ku Sei Peng sie für den folgenden Tag zum Tee zu sich
einlud. Die Amtsleiterin entschuldigte sich, bevor sie höflich
erklärte, dass Su Lings amerikanischer Ehemann nicht
willkommen wäre.
Su Ling kehrte am nächsten Abend in ihr kleines Hotel zurück,
mit einem Zettel Papier und einem glücklichen Lächeln. »Jetzt
sind wir den ganzen Weg hierher gekommen, nur um zu
erfahren, dass wir nach Seoul zurückkehren müssen«, sagte sie.
»Wieso das?«, wollte Nat wissen.
»Ganz einfach. Ku Sei Peng erinnerte sich, dass meine Mutter
das Dorf verlassen hat, um sich in der Hauptstadt Arbeit zu
suchen; sie kehrte jedoch nie zurück. Aber ihre jüngere
Schwester Kai Pai Peng wohnt immer noch in Seoul und Ku Sei
hat mir ihre letzte bekannte Adresse gegeben.«
»Also auf in die Hauptstadt.« Nat läutete am Empfang durch
und teilte mit, dass sie sofort auschecken wollten. Kurz vor
Mitternacht trafen sie in Seoul ein.
»Ich glaube, es wäre klüger, wenn ich sie allein besuche«,
sagte Su Ling am nächsten Morgen beim Frühstück.
»Möglicherweise sagt sie nicht mehr viel, wenn sie entdeckt,
dass ich mit einem Amerikaner verheiratet bin.«
284
»Soll mir recht sein«, erwiderte Nat. »Ich wollte ohnehin den
Markt auf der anderen Seite der Stadt besuchen. Ich suche
nämlich etwas ganz Bestimmtes.«
»Was denn?«, wollte Su Ling wissen.
»Wart’s ab.«
Nat nahm ein Taxi in das Kiray-Stadtviertel und brachte den
Tag damit zu, über einen der größten Freiluftmärkte der Welt zu
schlendern – eine Reihe an der anderen, unzählige übervolle
Stände, von Rolex-Uhren bis zu Zuchtperlen, von Gucci-
Taschen bis zu Chanel-Parfüm, von Cartier-Armbändern bis zu
Tiffany-Herzen. Er ignorierte Rufe wie »Hier herüber,
Amerikaner, schau dir meine Waren an, viel billiger«, da er sich
nie sicher sein konnte, was davon kein Imitat war.
Als Nat an diesem Abend ins Hotel kam, war er erschöpft und
trug schwer an sechs Einkaufstüten, in erster Linie mit
Geschenken für seine Frau. Er fuhr mit dem Aufzug in den
dritten Stock und als er die Tür zu ihrem Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher