Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
stehen – über dem Raum lag eine Art dreidimensionale Projektion. An einigen Stellen waren statt des Marmorbodens Schlammpfützen und moosbedeckte Pflastersteine zu erkennen. In der Mitte des Raums waren in einem Wagenspeichenmuster Gräberreihen angeordnet, die winzigen Reihenhäusern ähnelten. Viele der Grabmale waren aufgebrochen. Einige hatte man zugemauert, andere mit Eisengattern eingezäunt. An den Seiten des Saals veränderten schwarze Säulen ihre Form, manchmal verwandelten sie sich in alte Zypressen. Ich hatte das Gefühl, mich zwischen zwei Welten zu bewegen, und ich konnte nicht sagen, welche davon die Realität war.
Cheops stürzte sich sofort auf die kaputte Waage, kletterte hoch und machte es sich bequem. Er kümmerte sich nicht um den Nilpfudel.
Der Schakal trottete zu den Stufen des Throns und verwandelte sich wieder in Anubis.
»Willkommen«, begrüßte er uns, »im letzten Raum, den ihr je sehen werdet.«
Carter sah sich ehrfürchtig um. »Die Halle der beiden Wahrheiten.« Er betrachtete stirnrunzelnd den Nilpfudel. »Ist das …?«
»Ammit die Verschlingerin«, bestätigte Anubis. »Schaut sie euch an und zittert.«
Ammit hörte offensichtlich im Schlaf ihren Namen. Sie gab ein Jaulen von sich und drehte sich auf den Rücken. Ihre Löwen- und Nilpferdbeine zuckten. Ob Jenseitsungeheuer wohl davon träumten, auf Kaninchenjagd zu gehen?
»Ich hab sie mir immer … größer vorgestellt«, sagte Carter.
Anubis warf Carter einen strengen Blick zu. »Ammit muss lediglich groß genug sein, um die Herzen der Bösen zu fressen. Glaubt mir, sie leistet gute Arbeit. Beziehungsweise … sie hat gute Arbeit geleistet.«
Oben auf der Waage grunzte Cheops. Er wäre fast vom Mittelbalken gefallen, die verbeulte Untertasse schepperte auf den Boden.
»Warum ist die Waage kaputt?«, fragte ich.
Anubis runzelte die Stirn. »Maat wird schwächer. Ich habe versucht, sie zu reparieren, aber …« Er machte eine hilflose Geste.
Ich deutete auf die gespenstische Gräberreihe. »Macht sich deshalb, äh, der Friedhof breit?«
Carter warf mir einen seltsamen Blick zu. »Welcher Friedhof?«
»Die Gräber«, erklärte ich. »Die Bäume.«
»Wovon redest du?«
»Er kann sie nicht sehen«, sagte Anubis. »Aber du, Sadie – du nimmst sie wahr. Was hörst du?«
Zuerst wusste ich nicht, was er meinte, ich hörte bloß das Blut in meinen Ohren rauschen und das entfernte Rumpeln und Knistern des Feuersees. (Und das Kratzen und Grunzen von Cheops, aber das war ja nichts Neues.)
Als ich die Augen schloss, hörte ich in der Entfernung ein anderes Geräusch – Musik, die frühe Kindheitserinnerungen daran wachrief, wie mein Vater lächelnd mit mir in unserem Haus in Los Angeles herumgetanzt war.
»Jazz«, sagte ich.
Ich öffnete die Augen, die Halle der beiden Wahrheiten war verschwunden. Oder eigentlich nicht verschwunden, eher verblasst. Ich konnte noch immer die kaputte Waage und den leeren Thron sehen. Die schwarzen Säulen und das Zischen des Feuers waren jedoch weg. Selbst Carter, Cheops und Ammit waren nicht mehr da.
Der Friedhof hingegen war sehr real. Unter meinen Füßen klackerten zerbrochene Pflastersteine. Die feuchte Nachtluft roch nach Gewürzen und Fischeintopf und alten, muffigen Orten. Wären die Inschriften auf den Gräbern nicht auf Französisch gewesen und die Luft viel zu mild für einen englischen Winter, hätte ich gedacht, ich sei wieder in England – auf einem Friedhof irgendwo in London vielleicht. Die Äste der Bäume waren schwer vor saftig grünem Laub und mit Spanischem Moos bedeckt.
Und dann war da Musik. Genau vor dem Friedhofszaun marschierte eine Jazzband in schwarzen Anzügen und knallbunten Partyhütchen die Straße hinunter. Saxofonspieler hüpften hin und her. Kornette und Klarinetten jaulten. Trommler grinsten und wiegten sich in den Hüften, ihre Stöcke blitzten auf. Hinter ihnen tanzte eine Gruppe in Trauerkleidung mit Blumen und Fackeln einem altmodischen Leichenwagen hinterher.
»Wo sind wir?«, fragte ich verwundert.
Anubis sprang von einem Grabmal und landete direkt neben mir. Als er die Friedhofsluft einatmete, entspannten sich seine Gesichtszüge. Ich erwischte mich dabei, dass ich seinen Mund betrachtete, den Schwung seiner Unterlippe.
»New Orleans«, erwiderte er.
»Wie?«
»Die Untergegangene Stadt«, erklärte er. »Wir sind im French Quarter, auf der Westseite des Flusses – dem Ufer der Toten. Hier bin ich gern. Deshalb verbindet sich die
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