Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
ist die einzige Familie, die ich je hatte.«
Als ich Anubis im schwachen Licht des Friedhofs so vor mir sah, erkannte ich einen einsamen Jungen. Ich versuchte, nicht zu vergessen, dass er ein Gott war, Tausende von Jahren alt war und möglicherweise über gewaltige Kräfte verfügte, die magisches Klopapier weit überstiegen. Trotzdem tat er mir leid.
»Hilf uns, meinen Dad zu retten«, bat ich. »Wir schicken Seth in die Duat zurück und befreien Osiris. Und alle werden glücklich.«
Erneut schüttelte Anubis den Kopf. »Ich hab dir doch gesagt –«
»Deine Waage ist kaputt«, bemerkte ich. »Das kommt vermutlich daher, dass Osiris weg ist. Was passiert mit all den Seelen, die kommen, um ihr Urteil zu empfangen?«
Ich wusste, dass ich einen Nerv getroffen hatte. Anubis rutschte nervös auf der Bank hin und her. »Das Chaos wird immer größer. Die Seelen sind verwirrt. Einige schaffen es nicht ins Jenseits. Manche schon, aber sie müssen andere Wege finden. Ich versuche zu helfen, aber … die Halle der beiden Wahrheiten wird auch die Halle der Maat genannt. Sie sollte das Zentrum der Ordnung sein, ein solides Fundament. Aber ohne Osiris wird sie immer baufälliger und zerbricht.«
»Worauf wartest du dann noch? Gib uns die Feder. Es sei denn, du hast Schiss, dass dich dein Vater zu Hausarrest verdonnert.«
In seinen Augen flammte Ärger auf. Einen Moment lang glaubte ich, er denke über mein Begräbnis nach, doch er seufzte einfach vor Wut. »Ich führe ein Ritual durch, das ›Das Öffnen des Mundes‹ genannt wird. Es setzt die Seele des Toten frei. Für dich, Sadie Kane, würde ich glatt ein neues Ritual erfinden: ›Das Schließen des Mundes‹.«
»Haha, sehr lustig. Gibst du mir jetzt die Feder oder nicht?«
Er öffnete die Hand. Ein helles Licht blitzte auf und eine leuchtende Feder schwebte über seiner Handfläche – sie war schneeweiß und sah wie eine Schreibfeder aus. »Um Osiris willen – aber ich werde mehrere Bedingungen stellen. Erstens, nur du darfst sie einsetzen.«
»Klar, logisch. Du glaubst doch nicht etwa, ich würde Carter –«
»Weiterhin musst du auf meine Mutter, Nephthys, hören. Cheops hat mir gesagt, dass ihr sie sucht. Solltet ihr sie finden, hört auf sie.«
»Klar«, erwiderte ich, auch wenn ich mich dabei seltsam unbehaglich fühlte. Warum verlangte Anubis so etwas?
»Und bevor du gehst«, fuhr Anubis fort, »musst du mir – während du die Feder der Wahrheit hältst – als Beweis deiner Ehrlichkeit drei Fragen beantworten.«
Mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. »Ähm … was für Fragen denn?«
»Alles, was ich will. Und denk dran, die kleinste Lüge ist dein sicherer Tod.«
»Gib mir endlich die Scheißfeder.«
Als er sie mir in die Hand legte, hörte sie zu leuchten auf, fühlte sich jedoch wärmer und schwerer als eine gewöhnliche Feder an.
»Das ist die Schwanzfeder eines Benu«, erklärte Anubis. »Du würdest ihn als Phoenix bezeichnen. Sie wiegt genauso viel wie eine menschliche Seele. Bist du bereit?«
»Nein«, antwortete ich. Das war anscheinend die Wahrheit, denn ich ging nicht in Flammen auf. »Zählt das schon als Frage?«
Dass Anubis tatsächlich grinste, fand ich ziemlich verwirrend. »Vermutlich ja. Du feilschst wie ein phönizischer Seehandelskaufmann, Sadie Kane. Dann also die zweite Frage: Würdest du dein Leben für deinen Bruder opfern?«
»Ja«, antwortete ich, ohne zu überlegen.
(Tja. Hat mich auch überrascht. Aber da ich die Feder hielt, musste ich ehrlich sein. Offenbar machte sie einen nicht klüger.)
Anubis nickte, er wirkte jedenfalls nicht überrascht. »Letzte Frage: Wärst du bereit, deinen Vater zu opfern, wenn ihr dadurch die Welt retten könntet?«
»Die Frage ist nicht fair!«
»Antworte ehrlich.«
Was sollte ich auf so was antworten? Da konnte ich nicht einfach Ja oder Nein sagen.
Natürlich kannte ich die »richtige« Antwort. Von der Heldin wird erwartet, dass sie sich weigert, ihren Vater zu opfern. Anschließend schreitet sie mutig von dannen und rettet die Welt und ihren Vater, richtig? Was aber, wenn es wirklich nur das eine oder das andere gab? Die ganze Welt war ein schrecklich großer Ort: Gran und Gramps, Carter, Onkel Amos, Bastet, Cheops, Liz und Emma, alle, die ich je gekannt hatte. Was würde mein Vater sagen, wenn ich stattdessen ihn wählte?
»Wenn … wenn es wirklich keinen anderen Weg gäbe«, sagte ich, »überhaupt keinen anderen Weg – oh Mann. Das ist eine alberne
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